Montag, 26. Oktober 2015

Lesetipp Oktober: Nino Haratischwili: Das achte Leben



"Das achte Leben" der georgischen Autorin Nino Haratischwili ist ein ideales Buch für diejenigen unter Euch, die früher, als man die Zeit dafür noch hatte, immer gerne dicke Schinken wie die Tolstojs oder auch der französischen Naturalisten gelesen haben. Der fast 1300 Seiten starke Roman spielt schwerpunktmäßig in Georgien, in seinen Ausläufern aber auch in Russland, England und am Ende auch in Berlin. Er erzählt aus der Sicht eines späten Familienmitglieds die Geschichte eben jener georgischen Familie von der Zeit der Russischen Revolution bis zur Gegenwart. Prägende Themen sind dabei die Entwicklung der russischen und parallel der georgischen Gesellschaft im Laufe der Geschichte der Russischen Revolution, der Sowjetunion, des Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Das Romanpersonal bietet gut verständliche Archetypen z.B. des Rätefunktionärs aus Idealismus, des sich selbst optimierenden Speichelleckers, des Pater Familiä, der nichts desto trotz alle angenehmen Möglichkeiten als Mitglied der Nomenklatura gerne nutzt.

Die wichtigsten Personen des Buches sind jedoch allesamt Frauen. Frauen, die zusammen halten, Frauen, die aushalten, aber auch solche, die sich nie anpassen, sich weder in Gender-Rollen noch in Verhaltensnormen pressen lassen, die drüber zeitweise zu schillernden Sternen werden und die auch verzweifelt verglühen. Beeindruckend die "übermenschlich" schöne Christine, die infolge von Männermacht und ehrgeizgetriebener Kabale die Hälfte ihres engelsgleichen Gesichts durch einen Säureangriff aus verzweifelter Liebe verliert. Die vernarbte Hälfte ist fürderhin verdeckt von einem schwarzen Stück Vorhang neben der immer noch bestechend schönen anderen Hälfte ihres Gesichtes nicht mehr zu sehen. Was für ein Bild - das Buch bietet eine große Fotoschachtel von ähnlichen Impressionen.

Illustrationsmächtige Schilderungen von meist eher schrecklichen Erlebnissen prägen das Buch, ziehen den Leser hinein und bieten ihm ein wunderbares, europagroßes Panoptikum. Die zentrale Frage der Erzählerin am Ende, in der Gegenwart, als alles erzählt und zusammen gesetzt ist lautet: kann man sich der verzweifelten, bunten, erstickenden und zugleich aufgeblühten Geschichte der eigenen Vorfahren in deren gesellschaftlicher Umwelt entziehen, selbst jemand sein - und/oder muss man die Verantwortung für die Ergebnisse und Überbleibsel des Vorfahren-Schlamms (hier in Gestalt einer haltlosen, zwanghaft bedürftigen 13jährigen Nichte der Erzählerin) in alle Ewigkeit übernehmen?

Ein ungewöhnliches, süchtig machendes Werk - lesen!