Mittwoch, 16. Dezember 2015

Kinotipp zu Weihnachten: "Das Brandneue Testament"

 
Vielen, die sich mit Religion und der Welt beschäftigt haben ist sicher schon mal der Gedanke gekommen, dass wenn es Gott tatsächlich geben sollte, er doch ein rechtes Scheusal sein müsste. Genau von diesem Sachverhalt geht der französisch-belgische Spielfilm "Das Brandneue Testament" aus. "Gott existiert, er lebt in Brüssel." Das sind die ersten Worte der 10 jährigen Tochter Gottes, die in der Bibel, bislang bekannte Version, nicht vorkommt, in dem Film aber die Hauptrolle spielt. Sie wird von dem zynischen, übelgelaunten Allmächtigen tyrannisiert und auch mit dem Gürtel gezüchtigt. Seine Ehefrau, die "Göttin" behandelt dieser ebenfalls schlecht, sie ist so eingeschüchtert, dass sie sich lediglich mit Stickarbeiten die Zeit vertreibt. Er jedoch, nachdem er Adam und Eva geschaffen hatte zu seinem zynischen Vergnügen, zieht sich in Bademantel und Schlappen mit einigen angebrochenen Fläschchen Alkoholika in sein Arbeitszimmer zurück, wo er Gebote entwirft, die den Menschen das Leben schwer machen und ihm selbst dürftiges Vergnügen verschaffen. So kommt es, dass Marmeladebrote immer auf die bestrichene Seite fallen und vieles mehr.
 
Der Tochter, Ea, wird es allerdings zu bunt. Von "JC", ihrem berühmten Bruder, der schon früher das Weite gesucht hatte, erhält sie einen Tipp, wie sie die Wohnung durch eine gehackte Waschmaschine verlassen kann (ein etwas abgewandeltes Zitat aus "Beeing John Malkovich"). Zuvor jedoch veröffentlicht  sie mit Hilfe des väterlichen PCs die Sterbedaten der Menschen. Mensch geworden sucht sie sich 6 Apostel, die es mit ihrer Hilfe schaffen, ihr Leben zu Verändern - auch unter den veränderten Bedingungen der bekannten Restlebenszeit.
 

So verändert sich flugs die Welt - und das amüsiert den Zuschauer sehr. Gut, hier wird der Film etwas blumig,  aber immer kurz vor dem Kitsch nimmt er quietschend die Kurve. Zu kraftvoll sind die Alternativen, die erkennbar werden: was wäre, wenn der Allmächtige wohlwollend wäre? Einige praktische Probleme der Religionen werden kundig und spielerisch behandelt. Ein Beispiel: Jeder, der einen Theologen einmal über etwas Unverständliches, Unlogisches oder Widersprüchliches in der Bibel befragt hat, kennt u.A. die Antwort, das sei ein Problem der sprachlichen Überlieferung wahlweise vom Hebräischen ins Griechische oder vom Griechischen ins Lateinische oder der Abschriften und sei ganz anders gemeint und zu verstehen. Im Film ist der Protokollant der 6 neuen Evangelisten ein legasthenischer Obdachloser, der erstbeste, dem Ea begegnet. Er schreibt mit so gut er kann und in dem später tatsächlich erscheinenden Brandneuen Testament sind dann nur heitere Symbole gedruckt.
 
Die Probleme, die Gott selbst auf der von ihm geschaffenen Welt hat, als er Ea wieder einfangen will, sind höchst ergötzlich und die verrate ich Euch mal nicht.
 
Ein schöner kleiner Film zu Weihnachten, der Plot ist nicht wesentlich absurder als die ganzen Geschichten der Mutter Gottes mit den zwei Männern, deren einer als Ernährer taugt, während der andere der Allmächtige ist, keiner jedoch mit ihr schläft sondern ein Mitarbeiter des Zweiteren ihr ihre Schwangerschaft mitteilt. Genauso gut könnte Gott in Brüssel leben, meine ich. Die belgische Jungschauspierin Pili Groyne spielt die Rolle der Tochter Gottes überzeugend unaufgeregt - sie ist keineswegs perfekt, kann vieles nicht, auch wenn sie das übers Wasser Gehen beherrscht wie ihr Bruder. Benoît Poelvoorde gibt den Allmächtigen mit deutlicher Reminiszenz an den Dude Lebowski, warum auch nicht - der war ja auch göttlich. 

 
Ich empfehle Euch, sich den Film zu gönnen, durchaus auch als Anhänger einer der monotheistischen Religionen. Der Film sagt: Religion könnte auch anders aussehen. Und in erster Linie unterhält er und entlässt euch lachend aus dem Kino.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Lesetipp Dezember: Shumona Sinha - "Erschlagt die Armen"

Ganz ehrlich, als ich das Buch gelesen hatte, dachte ich zuerst, mit diesem Titel hat der Lektor dem Buch keinen Gefallen getan. Offensichtlich ist der aber doch absichtlich gewählt, es ist der Titel eines Gedichts von Beaudelaire. Nun gut. Lasst Euch jedenfalls nicht in die Irre führen. Die 1971 in Indien  geborene Französin Shumona Sinha hat 2011 mit diesem Buch eine aktuell stark beleuchtete Lebenswelt als Bühne für ein tabuloses, fesselndes Buch voller Brüche gewählt: die Verfahren zur Anerkennung als Asylberechtigter.

Die Protagonistin arbeitet als Dolmetscherin, immer im Team mit den "Entscheidern", meist Frauen, Juristinnen. Ihr Arbeitstag besteht aus den Geschichten, die die Antragsteller erzählen und nach denen entschieden wird, ob sie Asyl bekommen, das heißt in letzter Konsequenz über die Lebenssicherheit dieser Menschen. Der Roman spielt in Frankreich, die Verfahren laufen ziemlich genau so auch bei uns in Deutschland ab.

In dieser Situation erlebt die Erzählerin (Sinha hat diesen Job tatsächlich selbst ausgeübt) eine hilflose Verstricktheit und Verlogenheit aller Beteiligten. Die Anerkennungsbestimmungen verlangen, dass die Geschichte der Antragsteller ganz bestimmte "Features", Erlebnisse enthalten müssen, um zum Asyl zu berechtigen. Gut sind Vergewaltigungen, erforderlich sind irgendwelche politischen Organisationen im Spiel, konkurrierende am Besten. Jemand sollte umgebracht worden sein. Der Roman geht davon aus, dass die meisten Geschichten von kundigen Beratern aus den Einwanderer-Netzwerken erfunden und von den Antragstellern gekauft wurden. Das ist allen klar, dennoch, es gibt  keine besseren Grundlagen. Was bleibt ist: wer lügt besser? Auch wer ist noch am sympatischsten?

Die weiblichen Entscheiderteams sitzen den ganzen Tag überwiegend Männern gegenüber, die oft gebrochen sind, meist aus einer Welt des Männerstolzes kommen, in ihrem früheren Leben so niemals mit einer Frau gesprochen hätten. Die Erzählerin erlebt flashbacks zurück in ihre eigene Vergangenheit, auch sie ist ja Einwandererin.

Eine Welt von Gefangenen der Situation schildert der Roman, die Erzählerin entkommt ihr zeitweise mit teils selbstzerstörerischen sexuellen Abenteuern mit Männern, mit Schwärmerei für eine französische Entscheiderin.

Die Rahmenhandlung bildet eine Befragung durch einen "Herrn K." ( bestimmt kein Zufall), die den Angriff der Protagonistin auf einen der impertinenten, seelisch kastrierten Asylbewerber in der U-Bahn aufklären soll. Ob man für ein solch symbolisches "Erschlagen" dann Verständnis entwickelt, muss jeder Leser selbst beantworten.

Die Sprache des Romans ist farbig, kraftvoll, verträumt manchmal. Entwaffnend, realistisch, fatal entlässt uns das Buch in ein: "Tja, so ist es!" Lesen!

Dienstag, 1. Dezember 2015

"Esas son las cosas que passan..." Solche Dinge passieren eben.




San Juan del Sur
Eindrücke und Schnipsel einer kurzen Nicaragua-Reise

Ein Hubschrauber gerät über dem großen Nicaragua-See in der Nähe von San Carlos ins Trudeln aufgrund eines Getriebeschadens, er stürzt im Grenzgebiet zu Costa-Rica in den See - mehrere ertrinken. Und zwar auch Mitglieder der Familie Pellas, einer der Familien des Landes, die Rum-Destillerie "Flor de Canas" gehört ihr - Revolution hin oder her - ebenso wie die Importrechte für japanische Autos und ganz vieles mehr. "Bueno, esas son las cosas que passan..." sagt unser Freund Julio, 25, zu dieser Geschichte, als wir gerade mit dem Motorboot, der lancha rapida, an der Stelle vorbei kommen. Solche Dinge passieren eben. Und haben zur Folge, dass nun die Schwimmwestenpflicht auf dem See genau kontrolliert wird - auf Booten immerhin, denn auf Hubschraubern, besonders solchen der Familie Pellas wäre das weniger leicht möglich - und zwar von Militärpatroullien mit ähnlichen Lanchas wie der unsrigen, 5 Männer in Uniformen der Marine Nicaraguas. Zwei stehen breitbeinig da und halten die Kalaschnikows vor dem Bauch (hier kann an mal welche live sehen- Kalaschnikows, nicht Bäuche, solche haben die äußerst fit wirkenden Militärs nicht), einer schaut genau, ob alle Schwimmwesten anhaben und kontrolliert die Papiere des Bootes. Julio smalltalkt inzwischen mit den beiden Soldaten, die das Boot längsseits halten. Wir haben alle schicke und vorschriftsmäßige Schwimmwesten von Solentiname-Tours an, dennoch geht es bei den Kontrollen eigentlich auch mehr um Drogen. Im Grenzgebiet von Costa Rica wird schon auch versucht, so manches nach Norden zu schaffen. Wenig allerdings läuft da, Nicaragua hält sich die "Narcos" so gut es geht vom Leib. Tödlichen Einfluss von Drogenbanden wie in Mexico will man hier nicht. Deshalb geht Online-Banking hier nicht so leicht - die Rückseite des Drogentransportes ist ja der entsprechende Geld-Transfer - und an der Atlantikküste ist gerade ein neuer Stützpunkt der Anti-Drogen-Einheiten entstanden. Da arbeitet man auch durchaus mit der DEA, der Anti-Drogen-Agentur der USA zusammen.

  Wir jedenfalls erreichen dann unser Ziel "Los Guatuzos", ein Regenwald-Schutzgebiet, in das man bislang nur mit dem Boot gelangt. Leguane, Krokodile, Schildkröten und ähnliche Konsorten laufen hier noch frei herum, Mücken terrorisieren jeden ohne literweise "Repellente"- Antimückenspray. Ein überwältigender Dschungeleindruck. Was man auch sieht, ist die Brückenbaustelle. Brücke heißt ja wohl Straße - und ja, das Stück Dschungel wird gerade erschlossen. Das sei wichtig, für den Tourismus, dass mehr Leute, als die wenigen priviligierten mit den schwimmwestenkontrollierten Motorbooten in den Genuss des Dschungeltierparadieses kommen. Und natürlich würden die Bewohner dieses abgelegenen Fleckens gerne schnell in den nächsten Ort gelangen, nach Rivas zum Beispiel. Mal zum Arzt. in den neuen Supermarkt. Mit dem Bus. Oder, Armando, Führer durch den Dschungel, werden Sie sich dann ein Auto kaufen, wenn die Straße fertig ist? Verschmitztes Lächeln: "Vielleicht". Es ist, wie mit den Feldern der Einheimischen, die noch vor wenigen Jahren Regenwald waren: wie kann man den Leuten verdenken, dass sie ihre Umgebung nutzen und erschließen wollen? Den Wald dezimieren, wie in Europa ja auch Geschehen im Mittelalter, das Land urbar machen und erreichbar? Wird der namenlose Alligator, der sich heute vor dem Holzhaus von Armando mit Waldfrüchten von ihm füttern lässt, bevor der wieder sein Territorium gegen andere Machos ( was übrigens nichts weiter als Männchen bedeutet) verteidigen muss, denn größer wird es ja nicht, das Territorium, wird der Alligator bleiben, wenn er Autogebrumm hört und spürt, was er bislang nur vom Hörensagen kennt? Wie vielen Touristen werden sich die Leguane und die Weißgesichtaffen etwas genervt zeigen, wie viel Trubel werden sie gerade noch tolerieren bevor sie sich vom Acker machen, der vor kurzem noch Wald war? Genau weiß man das alles nicht. Noch ist der Waldspaziergang beeindruckend, die Entwicklung kann man aber auch nicht ausblenden. Was entwickelt sich noch?

Der Autoverkehr. 

Hier mal kein Stau: Straße nach San Carlos
Unglaublich, noch bei meinen Besuchen 2011 und 2012 war das Autofahren praktisch uneingeschränkt freudespendend zügig möglich. Die Sandinistische Regierung Nicaraguas hat hervorragende Straßen gebaut, wo nur Löcherpisten waren. Infrastrukturentwicklung, bezahlt mit Gewinnen überwiegend aus gemeinwohlfreundlichen Ölverträgen mit Venezuela, Hugo Chavez wird persönlich hoch verehrt für dieses Sponsoring der befreundeten Linksländer. Das bringt ein Land weiter, ermöglicht und erleichtert Schulbesuch und Gesundheitsversorgung, wirtschaftliches Wachstum und Tourismus. Und, wie überall, Straßen saugen Autos an. Vor irgendwoher kommen immer mehr davon, dieses Mal gab es ernsthafte Staus. Unsere Freunde Andrea und Felipe, Pendler nach Managua aus der Vorstadt, arbeiten jetzt schon antizyklisch abends länger, weil sie sonst auf dem Heimweg nur auf der Carretera a Masaya stehen würden. Wissen wir schon, könnten wir sagen, der Luise-Kiesselbach-Tunnel hat auch nix gebracht - würde aber den Kaufwunsch Auto eines erfolgreich nach Wohlstand rudernden Nica nicht niederschlagen. Das muss wohl so sein.

Und das Streben nach einem guten Leben, einem Negotio - einem Geschäft oder eigenem Unternehmen, nach einem Stück vom Tourismuskuchen, das lässt sich förmlich brummen spüren in Nicaragua. Überall an der Küste wird gebaut, klein noch etwa im Vergleich zu Mittelmeerküsten, Bungalow-Hotels, Familienpensionen. San Juan del Sur, der Surfer-Ort am Pazifik, Geheimtip an US-amerikanischen Unis noch, hat eine weiße Straßenbeleuchtung erhalten. Und schon rumpeln abends die Sound-Systems, in der neuen "Cervezeria" spielt am Samstag eine Band. Die Gehsteigecke, an der noch 2012 der Eckhund "Esquinero" sein träges Schlaf-und bettelleben "geführt" hat ist behindertengerecht abgesenkt worden. 
Ganz neu: Gehsteig abgesenkt
Das wird ja eine richtige Stadt! Den Strandverkäufern hat das noch nicht weiter geholfen, deren Status scheint sich nicht geändert zu haben, es ist einfach zu wenig los. Nur dass die Kinder mit den Tonpfeiffchen und Lederarmbändchen jetzt halbwüchsig sind und gleich recht offen "weed" anbieten. Anderen gelingt der ökonomisch-soziale Aufstieg besser: die Marktkantine in San Juan del Sur wird mehr und mehr zum Touri-Restaurant. Die Plastikstühle sind zu jeder Zeit besetzt, die Preise ziehen - noch moderat - an.

Ziemlich im Urlaub kann man sich fühlen bei beständigen 30° und keinen Nachrichten aus Paris, Syrien oder der Ukraine. Doch - was ist das? Illegal eingereiste Flüchtlinge, Konvoi und Aufnahmelager? Wie bitte, auch hier? Jaja, die Ticos - der Spitzname für die Einwohner und Politiker Costa Ricas - haben offensichtlich Zeitung gelesen und gelernt, dass man mit einem gezielt losgeschicktem Schwung Heimatloser an die Grenze eines nicht immer geliebten Nachbarlandes diesem geschwind mal Stress bereiten kann. In dem Fall handelt es sich um einige Hundert "gestrandete" kubanische Flüchtlinge, die von den Ticos busweise an der Grenze zu Nicaragua ausgeladen wurden. Wurden aber nicht aufgenommen. O.k., gelernt, es ist tatsächlich überall auf der Welt so, dass viele Menschen unterwegs das Konzept "Grenze" ins Trudeln bringen, nicht nur in Eurasien.

Das passt zu dem überragenden Eindruck, dass die Unterschiede geringer werden. Auch wenn GIZ, Peacecorps und andere NGOs in zahllosen Projekten immer noch wenn schon nicht die Welt so doch wenigstens das Land besser machen wollen, scheint sich deren Zeit dem Ende zu zu neigen. Schulleiter reagieren längst eher genervt, wenn ihnen wieder ein Westler beibringen will, was Elternarbeit ist. Mit studierten Nicas sprechen die EntwicklungshelferInnen mit Cargohosen und praktischen Frisuren eh nicht so gerne, die gläubig und ahnungslos aufschauende "einfache Bevölkerung" finden sie aber nicht mehr so leicht. Die Regierung baut rastlos weiter Schulen, der Arztbesuch ist nach wie vor kostenlos. Die jungen Leute sind selbstbewusst, dank sandinistisch-sozialdemokratischer Erziehung können praktisch alle, auch im kleinsten Dorf, eine substanzielle Diskussion führen, sich differenziert ausdrücken und - wunderschön Geschichten erzählen. "Esas son las cosas, que passan", das sind die Dinge die passieren in Nicaragua und ich werde immer wieder hinfahren.

Samstag, 7. November 2015

Lesetipp November: Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten



 
Mit "Die Erwählten" von Steve Sem-Sandberg empfehle ich Euch eindeutig ein November-Buch. Ein Buch, das erschüttert, ergreift und ent-deckt. Der dokumentarische Roman behandelt anhand der "Führsorgeanstalt" und "Klinik" am Spiegelgrund (in der Nähe von Wien) das Kindereuthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Doch geht es nicht nur um das Tötungsprogramm von Kindern, die als "lebensunwert", sprich mit keiner Aussicht auf "Arbeitsverwendung" eingestuft wurden, sondern ganz generell um die ausgrenzende, verteufelnde, schon zu Lebzeiten vernichtende Sicht der Menschen in jener Zeit auf Mitmenschen, die irgendwie anders sind. Insofern lohnt es sich unbedingt, es zu lesen, schön ist es nicht.
 
 
Der Autor Steve Sem-Sandberg, 57,  bekannt und bedeutend in Schweden, nimmt authentische Rohmaterialien und formt darum spürbare, nachempfindbare Leben. Das heißt die handelnden Personen - Ärzte, Krankenschwestern sowie auch Opfer - behinderte Kinder und solche, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen in die Mühlen des Heimsystems geraten waren, haben wirklich existiert. Die Fakten nimmt der Autor aus den späteren "Volksgerichtsverfahren" (so hießen die Kriegsverbrecher-Prozesse in Österreich) und anderen zugänglichen Quellen. Die Vorgänge am "Spiegelgrund", die mit nichts anderem als dem Begriff Folter zu beschreiben sind, hat Sem-Sandberg ebenfalls genauestens recherchiert. Speziell die "Behandlung/Untersuchung" "Pneumenzephalografie" wird exemplarisch geschildert - diese hinterhältige und idiotische Untersuchung ist nachweislich von jenen Personen an dieser Klinik hundertfach durchgeführt worden. Ebenso dokumentiert sind die Tötungen von Kindern nach einem persönlichen Erlass des "Führers", der aus Furcht vor Protesten nie veröffentlicht, sehr wohl aber konsequent umgesetzt worden ist. Diese tatsächlichen Personen, zentral "Adrian Ziegler"(Name geändert), "Patient", Anna Katschenka, Krankenschwester und die Mörderärzte Dr. Gross, Dr. Illing und Dr. Jekelius (Namen nicht geändert), bilden nun das Personal für einen packenden, und über weite Strecken wirklich deprimierenden Roman. Die Erzählperspektiven wechseln, die Personen bekommen erkennbare Gesichter und ein Seelenleben. Adrian Ziegler lernt man lieben, von den ihn behandelnden Ärzten, Schwestern, Beamten, Gerichtspersonen und anderen bekommt man Eindrücke, man kann sich etwas vorstellen unter deren Leben, um Verständnis bittet der Autor nie.
 
Was bekommen wir erzählt: den Alltag im "Spiegelgrund", Ausbruchsversuche, immer wieder die disziplinarisch gerechtfertigten Bestrafungsexzesse, Kollegenintrigen der Schwestern, Karrieregerangel der Ärzte und gegen Kriegsende ein vernichtender unbeschreiblich viehischer Fluchttransport der (verbliebenen) Heiminsassen im Laderaum eines Kohlenschlepper auf der Donau, verschraubt, dunkel, in den eigenen Exkrementen und zwischen bereits gestorbenen hockend den Luftangriffen ausgesetzt - wohlgemerkt, das alles hat wirklich statt gefunden. Der Leser begleitet das Leben von Adrian Ziegler bis in sein hohes Alter, ein Leben, das die meiste Zeit in Zuchthäusern und anderen Verschlussanstalten statt fand - denn von der jahrelangen brutalsten, nachhaltigen Schlechtbehandlung als Kind und Jugendlicher erholt sich ein Mensch psychisch und sozial wohl nicht mehr. Auch von den Prozessen gegen die Akteure erfahren wir zum Schluss, Genugtuung kann das nicht geben, eher bleibende Ratlosigkeit.
 
Warum sollte man so etwas lesen? Für mich einen Grund lieferte die anschließende Lektüre einer Dissertation über die oben genannte ärztliche Untersuchungsmethode. Eine Punktion der Wirbelsäule, Ablassen der das Gehirn umschließenden Flüssigkeit und Einpumpen von Luft als Kontrastmittel. Ich habe diese Schrift gesucht und gelesen, weil ich fast nicht glauben konnte, dass Professoren der Medizin solches tatsächlich getrieben haben. Und siehe da, selbst diese Dissertation eines Mediziners der Berliner Charite (Gergely Klinda: zur Geschichte der Pneumenzaphalografie, Universität Berlin, 2010)beschreibt diese barbarische Aktion sachlich. Die Qualen des Patienten heißen auch heute noch neutral "Nebenwirkungen". Für und Wider der Methode wird abgehandelt. Natürlich ist das Verfahren heute obsolet. Damals wurde extra ein medizinisches Instrumentarium aus komplizierten Röhren und Schläuchen sowie umfangreichste Fachliteratur um diese Methode geschaffen. Und das ist es: nur ein Roman wie "Die Erwählten" gibt uns die Möglichkeit, solches wissenschaftlich und politisch gerechtfertigtes ärztliches Tun in seiner Wirkung ganzheitlich wahrzunehmen und das Perverse daran zu erkennen. Die faktische Darstellung von Historikern oder Medizinern hilft uns da nicht. Absolut lesenswert und fesselnd - für starke Nerven.
 


Montag, 26. Oktober 2015

Lesetipp Oktober: Nino Haratischwili: Das achte Leben



"Das achte Leben" der georgischen Autorin Nino Haratischwili ist ein ideales Buch für diejenigen unter Euch, die früher, als man die Zeit dafür noch hatte, immer gerne dicke Schinken wie die Tolstojs oder auch der französischen Naturalisten gelesen haben. Der fast 1300 Seiten starke Roman spielt schwerpunktmäßig in Georgien, in seinen Ausläufern aber auch in Russland, England und am Ende auch in Berlin. Er erzählt aus der Sicht eines späten Familienmitglieds die Geschichte eben jener georgischen Familie von der Zeit der Russischen Revolution bis zur Gegenwart. Prägende Themen sind dabei die Entwicklung der russischen und parallel der georgischen Gesellschaft im Laufe der Geschichte der Russischen Revolution, der Sowjetunion, des Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Das Romanpersonal bietet gut verständliche Archetypen z.B. des Rätefunktionärs aus Idealismus, des sich selbst optimierenden Speichelleckers, des Pater Familiä, der nichts desto trotz alle angenehmen Möglichkeiten als Mitglied der Nomenklatura gerne nutzt.

Die wichtigsten Personen des Buches sind jedoch allesamt Frauen. Frauen, die zusammen halten, Frauen, die aushalten, aber auch solche, die sich nie anpassen, sich weder in Gender-Rollen noch in Verhaltensnormen pressen lassen, die drüber zeitweise zu schillernden Sternen werden und die auch verzweifelt verglühen. Beeindruckend die "übermenschlich" schöne Christine, die infolge von Männermacht und ehrgeizgetriebener Kabale die Hälfte ihres engelsgleichen Gesichts durch einen Säureangriff aus verzweifelter Liebe verliert. Die vernarbte Hälfte ist fürderhin verdeckt von einem schwarzen Stück Vorhang neben der immer noch bestechend schönen anderen Hälfte ihres Gesichtes nicht mehr zu sehen. Was für ein Bild - das Buch bietet eine große Fotoschachtel von ähnlichen Impressionen.

Illustrationsmächtige Schilderungen von meist eher schrecklichen Erlebnissen prägen das Buch, ziehen den Leser hinein und bieten ihm ein wunderbares, europagroßes Panoptikum. Die zentrale Frage der Erzählerin am Ende, in der Gegenwart, als alles erzählt und zusammen gesetzt ist lautet: kann man sich der verzweifelten, bunten, erstickenden und zugleich aufgeblühten Geschichte der eigenen Vorfahren in deren gesellschaftlicher Umwelt entziehen, selbst jemand sein - und/oder muss man die Verantwortung für die Ergebnisse und Überbleibsel des Vorfahren-Schlamms (hier in Gestalt einer haltlosen, zwanghaft bedürftigen 13jährigen Nichte der Erzählerin) in alle Ewigkeit übernehmen?

Ein ungewöhnliches, süchtig machendes Werk - lesen!