Dienstag, 1. Dezember 2015

"Esas son las cosas que passan..." Solche Dinge passieren eben.




San Juan del Sur
Eindrücke und Schnipsel einer kurzen Nicaragua-Reise

Ein Hubschrauber gerät über dem großen Nicaragua-See in der Nähe von San Carlos ins Trudeln aufgrund eines Getriebeschadens, er stürzt im Grenzgebiet zu Costa-Rica in den See - mehrere ertrinken. Und zwar auch Mitglieder der Familie Pellas, einer der Familien des Landes, die Rum-Destillerie "Flor de Canas" gehört ihr - Revolution hin oder her - ebenso wie die Importrechte für japanische Autos und ganz vieles mehr. "Bueno, esas son las cosas que passan..." sagt unser Freund Julio, 25, zu dieser Geschichte, als wir gerade mit dem Motorboot, der lancha rapida, an der Stelle vorbei kommen. Solche Dinge passieren eben. Und haben zur Folge, dass nun die Schwimmwestenpflicht auf dem See genau kontrolliert wird - auf Booten immerhin, denn auf Hubschraubern, besonders solchen der Familie Pellas wäre das weniger leicht möglich - und zwar von Militärpatroullien mit ähnlichen Lanchas wie der unsrigen, 5 Männer in Uniformen der Marine Nicaraguas. Zwei stehen breitbeinig da und halten die Kalaschnikows vor dem Bauch (hier kann an mal welche live sehen- Kalaschnikows, nicht Bäuche, solche haben die äußerst fit wirkenden Militärs nicht), einer schaut genau, ob alle Schwimmwesten anhaben und kontrolliert die Papiere des Bootes. Julio smalltalkt inzwischen mit den beiden Soldaten, die das Boot längsseits halten. Wir haben alle schicke und vorschriftsmäßige Schwimmwesten von Solentiname-Tours an, dennoch geht es bei den Kontrollen eigentlich auch mehr um Drogen. Im Grenzgebiet von Costa Rica wird schon auch versucht, so manches nach Norden zu schaffen. Wenig allerdings läuft da, Nicaragua hält sich die "Narcos" so gut es geht vom Leib. Tödlichen Einfluss von Drogenbanden wie in Mexico will man hier nicht. Deshalb geht Online-Banking hier nicht so leicht - die Rückseite des Drogentransportes ist ja der entsprechende Geld-Transfer - und an der Atlantikküste ist gerade ein neuer Stützpunkt der Anti-Drogen-Einheiten entstanden. Da arbeitet man auch durchaus mit der DEA, der Anti-Drogen-Agentur der USA zusammen.

  Wir jedenfalls erreichen dann unser Ziel "Los Guatuzos", ein Regenwald-Schutzgebiet, in das man bislang nur mit dem Boot gelangt. Leguane, Krokodile, Schildkröten und ähnliche Konsorten laufen hier noch frei herum, Mücken terrorisieren jeden ohne literweise "Repellente"- Antimückenspray. Ein überwältigender Dschungeleindruck. Was man auch sieht, ist die Brückenbaustelle. Brücke heißt ja wohl Straße - und ja, das Stück Dschungel wird gerade erschlossen. Das sei wichtig, für den Tourismus, dass mehr Leute, als die wenigen priviligierten mit den schwimmwestenkontrollierten Motorbooten in den Genuss des Dschungeltierparadieses kommen. Und natürlich würden die Bewohner dieses abgelegenen Fleckens gerne schnell in den nächsten Ort gelangen, nach Rivas zum Beispiel. Mal zum Arzt. in den neuen Supermarkt. Mit dem Bus. Oder, Armando, Führer durch den Dschungel, werden Sie sich dann ein Auto kaufen, wenn die Straße fertig ist? Verschmitztes Lächeln: "Vielleicht". Es ist, wie mit den Feldern der Einheimischen, die noch vor wenigen Jahren Regenwald waren: wie kann man den Leuten verdenken, dass sie ihre Umgebung nutzen und erschließen wollen? Den Wald dezimieren, wie in Europa ja auch Geschehen im Mittelalter, das Land urbar machen und erreichbar? Wird der namenlose Alligator, der sich heute vor dem Holzhaus von Armando mit Waldfrüchten von ihm füttern lässt, bevor der wieder sein Territorium gegen andere Machos ( was übrigens nichts weiter als Männchen bedeutet) verteidigen muss, denn größer wird es ja nicht, das Territorium, wird der Alligator bleiben, wenn er Autogebrumm hört und spürt, was er bislang nur vom Hörensagen kennt? Wie vielen Touristen werden sich die Leguane und die Weißgesichtaffen etwas genervt zeigen, wie viel Trubel werden sie gerade noch tolerieren bevor sie sich vom Acker machen, der vor kurzem noch Wald war? Genau weiß man das alles nicht. Noch ist der Waldspaziergang beeindruckend, die Entwicklung kann man aber auch nicht ausblenden. Was entwickelt sich noch?

Der Autoverkehr. 

Hier mal kein Stau: Straße nach San Carlos
Unglaublich, noch bei meinen Besuchen 2011 und 2012 war das Autofahren praktisch uneingeschränkt freudespendend zügig möglich. Die Sandinistische Regierung Nicaraguas hat hervorragende Straßen gebaut, wo nur Löcherpisten waren. Infrastrukturentwicklung, bezahlt mit Gewinnen überwiegend aus gemeinwohlfreundlichen Ölverträgen mit Venezuela, Hugo Chavez wird persönlich hoch verehrt für dieses Sponsoring der befreundeten Linksländer. Das bringt ein Land weiter, ermöglicht und erleichtert Schulbesuch und Gesundheitsversorgung, wirtschaftliches Wachstum und Tourismus. Und, wie überall, Straßen saugen Autos an. Vor irgendwoher kommen immer mehr davon, dieses Mal gab es ernsthafte Staus. Unsere Freunde Andrea und Felipe, Pendler nach Managua aus der Vorstadt, arbeiten jetzt schon antizyklisch abends länger, weil sie sonst auf dem Heimweg nur auf der Carretera a Masaya stehen würden. Wissen wir schon, könnten wir sagen, der Luise-Kiesselbach-Tunnel hat auch nix gebracht - würde aber den Kaufwunsch Auto eines erfolgreich nach Wohlstand rudernden Nica nicht niederschlagen. Das muss wohl so sein.

Und das Streben nach einem guten Leben, einem Negotio - einem Geschäft oder eigenem Unternehmen, nach einem Stück vom Tourismuskuchen, das lässt sich förmlich brummen spüren in Nicaragua. Überall an der Küste wird gebaut, klein noch etwa im Vergleich zu Mittelmeerküsten, Bungalow-Hotels, Familienpensionen. San Juan del Sur, der Surfer-Ort am Pazifik, Geheimtip an US-amerikanischen Unis noch, hat eine weiße Straßenbeleuchtung erhalten. Und schon rumpeln abends die Sound-Systems, in der neuen "Cervezeria" spielt am Samstag eine Band. Die Gehsteigecke, an der noch 2012 der Eckhund "Esquinero" sein träges Schlaf-und bettelleben "geführt" hat ist behindertengerecht abgesenkt worden. 
Ganz neu: Gehsteig abgesenkt
Das wird ja eine richtige Stadt! Den Strandverkäufern hat das noch nicht weiter geholfen, deren Status scheint sich nicht geändert zu haben, es ist einfach zu wenig los. Nur dass die Kinder mit den Tonpfeiffchen und Lederarmbändchen jetzt halbwüchsig sind und gleich recht offen "weed" anbieten. Anderen gelingt der ökonomisch-soziale Aufstieg besser: die Marktkantine in San Juan del Sur wird mehr und mehr zum Touri-Restaurant. Die Plastikstühle sind zu jeder Zeit besetzt, die Preise ziehen - noch moderat - an.

Ziemlich im Urlaub kann man sich fühlen bei beständigen 30° und keinen Nachrichten aus Paris, Syrien oder der Ukraine. Doch - was ist das? Illegal eingereiste Flüchtlinge, Konvoi und Aufnahmelager? Wie bitte, auch hier? Jaja, die Ticos - der Spitzname für die Einwohner und Politiker Costa Ricas - haben offensichtlich Zeitung gelesen und gelernt, dass man mit einem gezielt losgeschicktem Schwung Heimatloser an die Grenze eines nicht immer geliebten Nachbarlandes diesem geschwind mal Stress bereiten kann. In dem Fall handelt es sich um einige Hundert "gestrandete" kubanische Flüchtlinge, die von den Ticos busweise an der Grenze zu Nicaragua ausgeladen wurden. Wurden aber nicht aufgenommen. O.k., gelernt, es ist tatsächlich überall auf der Welt so, dass viele Menschen unterwegs das Konzept "Grenze" ins Trudeln bringen, nicht nur in Eurasien.

Das passt zu dem überragenden Eindruck, dass die Unterschiede geringer werden. Auch wenn GIZ, Peacecorps und andere NGOs in zahllosen Projekten immer noch wenn schon nicht die Welt so doch wenigstens das Land besser machen wollen, scheint sich deren Zeit dem Ende zu zu neigen. Schulleiter reagieren längst eher genervt, wenn ihnen wieder ein Westler beibringen will, was Elternarbeit ist. Mit studierten Nicas sprechen die EntwicklungshelferInnen mit Cargohosen und praktischen Frisuren eh nicht so gerne, die gläubig und ahnungslos aufschauende "einfache Bevölkerung" finden sie aber nicht mehr so leicht. Die Regierung baut rastlos weiter Schulen, der Arztbesuch ist nach wie vor kostenlos. Die jungen Leute sind selbstbewusst, dank sandinistisch-sozialdemokratischer Erziehung können praktisch alle, auch im kleinsten Dorf, eine substanzielle Diskussion führen, sich differenziert ausdrücken und - wunderschön Geschichten erzählen. "Esas son las cosas, que passan", das sind die Dinge die passieren in Nicaragua und ich werde immer wieder hinfahren.

1 Kommentar: