Donnerstag, 3. Dezember 2015

Lesetipp Dezember: Shumona Sinha - "Erschlagt die Armen"

Ganz ehrlich, als ich das Buch gelesen hatte, dachte ich zuerst, mit diesem Titel hat der Lektor dem Buch keinen Gefallen getan. Offensichtlich ist der aber doch absichtlich gewählt, es ist der Titel eines Gedichts von Beaudelaire. Nun gut. Lasst Euch jedenfalls nicht in die Irre führen. Die 1971 in Indien  geborene Französin Shumona Sinha hat 2011 mit diesem Buch eine aktuell stark beleuchtete Lebenswelt als Bühne für ein tabuloses, fesselndes Buch voller Brüche gewählt: die Verfahren zur Anerkennung als Asylberechtigter.

Die Protagonistin arbeitet als Dolmetscherin, immer im Team mit den "Entscheidern", meist Frauen, Juristinnen. Ihr Arbeitstag besteht aus den Geschichten, die die Antragsteller erzählen und nach denen entschieden wird, ob sie Asyl bekommen, das heißt in letzter Konsequenz über die Lebenssicherheit dieser Menschen. Der Roman spielt in Frankreich, die Verfahren laufen ziemlich genau so auch bei uns in Deutschland ab.

In dieser Situation erlebt die Erzählerin (Sinha hat diesen Job tatsächlich selbst ausgeübt) eine hilflose Verstricktheit und Verlogenheit aller Beteiligten. Die Anerkennungsbestimmungen verlangen, dass die Geschichte der Antragsteller ganz bestimmte "Features", Erlebnisse enthalten müssen, um zum Asyl zu berechtigen. Gut sind Vergewaltigungen, erforderlich sind irgendwelche politischen Organisationen im Spiel, konkurrierende am Besten. Jemand sollte umgebracht worden sein. Der Roman geht davon aus, dass die meisten Geschichten von kundigen Beratern aus den Einwanderer-Netzwerken erfunden und von den Antragstellern gekauft wurden. Das ist allen klar, dennoch, es gibt  keine besseren Grundlagen. Was bleibt ist: wer lügt besser? Auch wer ist noch am sympatischsten?

Die weiblichen Entscheiderteams sitzen den ganzen Tag überwiegend Männern gegenüber, die oft gebrochen sind, meist aus einer Welt des Männerstolzes kommen, in ihrem früheren Leben so niemals mit einer Frau gesprochen hätten. Die Erzählerin erlebt flashbacks zurück in ihre eigene Vergangenheit, auch sie ist ja Einwandererin.

Eine Welt von Gefangenen der Situation schildert der Roman, die Erzählerin entkommt ihr zeitweise mit teils selbstzerstörerischen sexuellen Abenteuern mit Männern, mit Schwärmerei für eine französische Entscheiderin.

Die Rahmenhandlung bildet eine Befragung durch einen "Herrn K." ( bestimmt kein Zufall), die den Angriff der Protagonistin auf einen der impertinenten, seelisch kastrierten Asylbewerber in der U-Bahn aufklären soll. Ob man für ein solch symbolisches "Erschlagen" dann Verständnis entwickelt, muss jeder Leser selbst beantworten.

Die Sprache des Romans ist farbig, kraftvoll, verträumt manchmal. Entwaffnend, realistisch, fatal entlässt uns das Buch in ein: "Tja, so ist es!" Lesen!

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