Dienstag, 21. April 2020

Lesetipp April 2020: Haruki Murakami, 1Q84



Chaos in der Stadtwohnung: die Kinder sind nicht in der Schule, die überforderte Mutter sitzt in der Videokonferenz am Esstisch, unter dem der gelangweilte Hund am Pantoffel knabbert. Der kurzarbeitende Vater kann erst in den Baumarkt rein, wenn ein anderer Kunde raus geht. Bus fahren geht nur mit Mund-Nasen-Bedeckung. Isolation, Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkungen.  Das ist der atmosphärische Rahmen des Romans, den ich Euch heute vorstelle.

Nein halt. Das ist ja die „Realität“ in fast jedem Land im April 2020. Ich hab’s glatt verwechselt.

Ebenso verwirrend nah nebeneinander liegen zwei „Realitäten“ in dem Roman „1Q84“ von Haruki Murakami, der Euch mit seinen über 1000 überaus spannenden Seiten sehr gut durch einige Tage Cornona-Surrealität begleiten kann.  Murakami, Jahrgang 1949, ist offensichtich einer der einflussreichsten japanischen Romanautoren und Inhaber zahlreicher Literaturpreise.  Sein Schreibstil ist jederzeit kosmopolitisch, das Buch könnte auch in einem anderen Teil der Welt angesiedelt sein. Das 2009 im japanischen Original, 2010 auf deutsch übersetzt von Ursula Gräfe erschienene Werk besteht eigentlich aus 3 Teilen. Das „Buch 1&2“ gibt es in einem Stück und erzählt eine abgeschlossene Geschichte. Darum geht es hier. Der Roman handelt in Tokyo, Japan, im Jahr 1984, beginnt realistisch und verläuft sich in seinem Verlauf ins Surreale, in eine Art Parallelwelt, „1Q84“, die sich äußerlich minimal unterscheidet, z.B. durch zwei Monde anstatt einem am Himmel.

Die erste der beiden Protagonisten, Aomame, eine Fitnesstrainerin, die nebenbei aus Gerechtigkeitsgefühl und in Zusammenarbeit mit einer älteren Dame, diskret Männer tötet. Männer, von denen den Rächerinnen bekannt ist, dass sie Frauen Gewalt angetan haben. Aomame geht dabei äußerst professionell vor, sodass ihr keine Gefahr von Seiten der Behörden droht, solange, bis sie während eines Verkehrsstaus in der Tokyoter Rushhour ihr Taxi verlässt und via eine Nottreppe von der Stadtautobahn in eine Parallelwelt gerät. Was sie aber erst später bemerkt, konkret und origineller Weise daran, dass die Streifenpolizisten, denen sie begegnet, plötzlich eigentlich längst durch Automatikpistolen ausgetauschte Revolver, in der „Wirklichkeit“ ausgetauschte jedenfalls, am Gürtel tragen. Sie benennt diese Welt für sich mit „1Q84“.

Die zweite Hauptfigur ist die Kindheitsliebe von Aomame, der freiberufliche Mathelehrer und Texter Tengo, 28 Jahre. Diesem wird von einem furcht- und respektlosen Verlagslektor, der den Literaturbetrieb und seine Erfolgsfaktoren knallhart durchschaut, eine Textredaktion angeboten. Ein inhaltlich packender Buchentwurf, der sprachlich allerdings nicht tauglich ist, soll von Tengo anonym überarbeitet werden und dann dennoch als Erstlingswerk der irgendwie autistischen, legastenischen, gleichzeitig äusserst schönen 17-jährigen Fukaeri erscheinen, ein klarer Betrug. Tengo lässt sich aus Interesse an der faszinierenden Fukaeri und dem ungewöhnlichen Text, der ihn magisch anzieht, auf den Deal ein. Das Buch gewinnt den angestrebten Literaturpreis und wird ein Bestseller.

Im weiteren Verlauf gerät dieses erfreulich überschaubare Personal in einen Strudel von Ereignissen und dämonischen Kämpfen zwischen ihnen unbekannten Kräften, beziehungsweise entdeckt nach und nach seine bestenden Verflechtungen damit.  Die Hintergründe, das, worum es eigentlich geht, bleibt teilweise lange im Dunkel, sowohl für Akteure als auch Leser, was wirklich fesselnd wirkt. Die Dinge drehen sich um eine esoterisch-religiöse Gruppe von ursprünglich hippieartigen Kolonisten, die in den Bergen massiv Ländereinen erwerben und über deren internes Treiben kaum etwas nach Aussen dringt. Eine Rolle spielen auch sexuelle Handlungen an Mädchen, die einerseits brutal in den nachher sichtbaren Auswirkungen scheinen, andererseits irgendwie zu einem fremdartigen Zeremoniell zu gehören scheinen. Jedenfalls einwirkend aber nebulös: eine surreale Gruppe der sehr wandelbaren „Little People“ sowie eine gesponnene „Puppe aus Luft“, dies ist ebenfalls der Titel des planmäßigen Plagiats.

Damit verwoben, in verschiedensten zeitlichen Rückblenden erzählt, sind die Lebensgeschichten von Aomame und Tengo seit deren frühesten Kindheit. Zu Opfern der Annäherung der Akteure an die nebulöse Welt der Bergkommune und ihren mystischen Kräften werden diverse Nebenfiguren: Tengos Vater erliegt einer plötzlich auftretenden, unerklärlichen allgemeinen Schwäche. Tengos verheiratete Bettgefährtin kommt ihn „in keiner Form“ mehr besuchen, wie ihm von deren verstörten Ehemann mitgeteilt wird. Aomames zeitweise Freundin wird tot aufgefunden. Der Hund der älteren Rächerdame wird von innen nach aussen gewendet.

Dabei bleibt der Erzählstil dauerhaft und konstant äusserst kultiviert, reduziert, sachlich. Beschreibungen sind genau, detailliert, neutral.  Murakami gelingt es dennoch - oder gerade dadurch, eine für die teils surrealen Inhalte ungewöhnliche Nähe zwischen den handelnden Personen, deren Motiven, Eindrücken und Depressionen herzustellen.

Meisterhaft und professionell, was Dramaturgie anbelangt, verwendet der Autor Elemente, die „immer ziehen“, aber keinesfalls platt ankommen: fein und liebevoll geschilderter Sex, persönliche Unabhängigkeit der Akteure, wie sie sich jeder Leser erträumt, sowie körperliche Attraktivität der handelnden Personen – ein bisschen wie in einer Netflix-Serie, aber einer der guten.

Das Besondere und Geniale ist die Verbindung aus textpoetischem Anspruch, fiktional überbordender Fantasie und professionellem Erzählstil. Ein wirklich großer Roman, der mir half, einige gruselige Statements des Veterinärs Prof. Wieler vom Robert-Koch-Institut zu vergessen.