Chaos in der Stadtwohnung: die Kinder sind nicht in der Schule, die überforderte Mutter sitzt in der Videokonferenz am Esstisch, unter dem der gelangweilte Hund am Pantoffel knabbert. Der kurzarbeitende Vater kann erst in den Baumarkt rein, wenn ein anderer Kunde raus geht. Bus fahren geht nur mit Mund-Nasen-Bedeckung. Isolation, Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkungen. Das ist der atmosphärische Rahmen des Romans, den ich Euch heute vorstelle.
Nein halt. Das ist ja die „Realität“
in fast jedem Land im April 2020. Ich hab’s glatt verwechselt.
Ebenso verwirrend nah nebeneinander
liegen zwei „Realitäten“ in dem Roman „1Q84“ von Haruki Murakami, der Euch
mit seinen über 1000 überaus spannenden Seiten sehr gut durch einige Tage
Cornona-Surrealität begleiten kann. Murakami,
Jahrgang 1949, ist offensichtich einer der einflussreichsten japanischen Romanautoren und Inhaber
zahlreicher Literaturpreise. Sein Schreibstil
ist jederzeit kosmopolitisch, das Buch könnte auch in einem anderen Teil der
Welt angesiedelt sein. Das 2009 im japanischen Original, 2010 auf deutsch übersetzt
von Ursula Gräfe erschienene Werk besteht eigentlich aus 3 Teilen. Das „Buch
1&2“ gibt es in einem Stück und erzählt eine abgeschlossene Geschichte. Darum geht es hier. Der Roman handelt in Tokyo, Japan, im Jahr
1984, beginnt realistisch und verläuft sich in seinem Verlauf ins Surreale, in
eine Art Parallelwelt, „1Q84“, die sich äußerlich minimal unterscheidet, z.B.
durch zwei Monde anstatt einem am Himmel.
Die erste der beiden Protagonisten,
Aomame, eine Fitnesstrainerin, die nebenbei aus Gerechtigkeitsgefühl und in
Zusammenarbeit mit einer älteren Dame, diskret Männer tötet. Männer, von denen
den Rächerinnen bekannt ist, dass sie Frauen Gewalt angetan haben. Aomame geht
dabei äußerst professionell vor, sodass ihr keine Gefahr von Seiten der
Behörden droht, solange, bis sie während eines Verkehrsstaus in der Tokyoter
Rushhour ihr Taxi verlässt und via eine Nottreppe von der Stadtautobahn in eine
Parallelwelt gerät. Was sie aber erst später bemerkt, konkret und origineller Weise
daran, dass die Streifenpolizisten, denen sie begegnet, plötzlich eigentlich längst
durch Automatikpistolen ausgetauschte Revolver, in der „Wirklichkeit“ ausgetauschte
jedenfalls, am Gürtel tragen. Sie benennt diese Welt für sich mit „1Q84“.
Die zweite Hauptfigur ist die
Kindheitsliebe von Aomame, der freiberufliche Mathelehrer und Texter Tengo, 28 Jahre.
Diesem wird von einem furcht- und respektlosen Verlagslektor, der den
Literaturbetrieb und seine Erfolgsfaktoren knallhart durchschaut, eine
Textredaktion angeboten. Ein inhaltlich packender Buchentwurf, der sprachlich
allerdings nicht tauglich ist, soll von Tengo anonym überarbeitet werden und
dann dennoch als Erstlingswerk der irgendwie autistischen, legastenischen, gleichzeitig
äusserst schönen 17-jährigen Fukaeri erscheinen, ein klarer Betrug. Tengo lässt
sich aus Interesse an der faszinierenden Fukaeri und dem ungewöhnlichen Text,
der ihn magisch anzieht, auf den Deal ein. Das Buch gewinnt den angestrebten
Literaturpreis und wird ein Bestseller.
Im weiteren Verlauf gerät dieses erfreulich
überschaubare Personal in einen Strudel von Ereignissen und dämonischen Kämpfen
zwischen ihnen unbekannten Kräften, beziehungsweise entdeckt nach und nach seine
bestenden Verflechtungen damit. Die Hintergründe,
das, worum es eigentlich geht, bleibt teilweise lange im Dunkel, sowohl für
Akteure als auch Leser, was wirklich fesselnd wirkt. Die Dinge drehen sich um
eine esoterisch-religiöse Gruppe von ursprünglich hippieartigen Kolonisten, die
in den Bergen massiv Ländereinen erwerben und über deren internes Treiben kaum
etwas nach Aussen dringt. Eine Rolle spielen auch sexuelle Handlungen an
Mädchen, die einerseits brutal in den nachher sichtbaren Auswirkungen scheinen,
andererseits irgendwie zu einem fremdartigen Zeremoniell zu gehören scheinen.
Jedenfalls einwirkend aber nebulös: eine surreale Gruppe der sehr wandelbaren „Little
People“ sowie eine gesponnene „Puppe aus Luft“, dies ist ebenfalls der Titel
des planmäßigen Plagiats.
Damit verwoben, in verschiedensten
zeitlichen Rückblenden erzählt, sind die Lebensgeschichten von Aomame und Tengo
seit deren frühesten Kindheit. Zu Opfern der Annäherung der Akteure an die
nebulöse Welt der Bergkommune und ihren mystischen Kräften werden diverse
Nebenfiguren: Tengos Vater erliegt einer plötzlich auftretenden, unerklärlichen
allgemeinen Schwäche. Tengos verheiratete Bettgefährtin kommt ihn „in keiner
Form“ mehr besuchen, wie ihm von deren verstörten Ehemann mitgeteilt wird. Aomames
zeitweise Freundin wird tot aufgefunden. Der Hund der älteren Rächerdame wird
von innen nach aussen gewendet.
Dabei bleibt der Erzählstil dauerhaft
und konstant äusserst kultiviert, reduziert, sachlich. Beschreibungen sind
genau, detailliert, neutral. Murakami gelingt es dennoch - oder gerade
dadurch, eine für die teils surrealen Inhalte ungewöhnliche Nähe zwischen den handelnden Personen, deren Motiven, Eindrücken und Depressionen herzustellen.
Meisterhaft und professionell, was
Dramaturgie anbelangt, verwendet der Autor Elemente, die „immer ziehen“, aber
keinesfalls platt ankommen: fein und liebevoll geschilderter Sex, persönliche
Unabhängigkeit der Akteure, wie sie sich jeder Leser erträumt, sowie
körperliche Attraktivität der handelnden Personen – ein bisschen wie in einer
Netflix-Serie, aber einer der guten.
Das Besondere und Geniale ist die
Verbindung aus textpoetischem Anspruch, fiktional überbordender Fantasie und
professionellem Erzählstil. Ein wirklich großer Roman, der mir half, einige gruselige
Statements des Veterinärs Prof. Wieler vom Robert-Koch-Institut zu vergessen.