Samstag, 7. November 2015

Lesetipp November: Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten



 
Mit "Die Erwählten" von Steve Sem-Sandberg empfehle ich Euch eindeutig ein November-Buch. Ein Buch, das erschüttert, ergreift und ent-deckt. Der dokumentarische Roman behandelt anhand der "Führsorgeanstalt" und "Klinik" am Spiegelgrund (in der Nähe von Wien) das Kindereuthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Doch geht es nicht nur um das Tötungsprogramm von Kindern, die als "lebensunwert", sprich mit keiner Aussicht auf "Arbeitsverwendung" eingestuft wurden, sondern ganz generell um die ausgrenzende, verteufelnde, schon zu Lebzeiten vernichtende Sicht der Menschen in jener Zeit auf Mitmenschen, die irgendwie anders sind. Insofern lohnt es sich unbedingt, es zu lesen, schön ist es nicht.
 
 
Der Autor Steve Sem-Sandberg, 57,  bekannt und bedeutend in Schweden, nimmt authentische Rohmaterialien und formt darum spürbare, nachempfindbare Leben. Das heißt die handelnden Personen - Ärzte, Krankenschwestern sowie auch Opfer - behinderte Kinder und solche, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen in die Mühlen des Heimsystems geraten waren, haben wirklich existiert. Die Fakten nimmt der Autor aus den späteren "Volksgerichtsverfahren" (so hießen die Kriegsverbrecher-Prozesse in Österreich) und anderen zugänglichen Quellen. Die Vorgänge am "Spiegelgrund", die mit nichts anderem als dem Begriff Folter zu beschreiben sind, hat Sem-Sandberg ebenfalls genauestens recherchiert. Speziell die "Behandlung/Untersuchung" "Pneumenzephalografie" wird exemplarisch geschildert - diese hinterhältige und idiotische Untersuchung ist nachweislich von jenen Personen an dieser Klinik hundertfach durchgeführt worden. Ebenso dokumentiert sind die Tötungen von Kindern nach einem persönlichen Erlass des "Führers", der aus Furcht vor Protesten nie veröffentlicht, sehr wohl aber konsequent umgesetzt worden ist. Diese tatsächlichen Personen, zentral "Adrian Ziegler"(Name geändert), "Patient", Anna Katschenka, Krankenschwester und die Mörderärzte Dr. Gross, Dr. Illing und Dr. Jekelius (Namen nicht geändert), bilden nun das Personal für einen packenden, und über weite Strecken wirklich deprimierenden Roman. Die Erzählperspektiven wechseln, die Personen bekommen erkennbare Gesichter und ein Seelenleben. Adrian Ziegler lernt man lieben, von den ihn behandelnden Ärzten, Schwestern, Beamten, Gerichtspersonen und anderen bekommt man Eindrücke, man kann sich etwas vorstellen unter deren Leben, um Verständnis bittet der Autor nie.
 
Was bekommen wir erzählt: den Alltag im "Spiegelgrund", Ausbruchsversuche, immer wieder die disziplinarisch gerechtfertigten Bestrafungsexzesse, Kollegenintrigen der Schwestern, Karrieregerangel der Ärzte und gegen Kriegsende ein vernichtender unbeschreiblich viehischer Fluchttransport der (verbliebenen) Heiminsassen im Laderaum eines Kohlenschlepper auf der Donau, verschraubt, dunkel, in den eigenen Exkrementen und zwischen bereits gestorbenen hockend den Luftangriffen ausgesetzt - wohlgemerkt, das alles hat wirklich statt gefunden. Der Leser begleitet das Leben von Adrian Ziegler bis in sein hohes Alter, ein Leben, das die meiste Zeit in Zuchthäusern und anderen Verschlussanstalten statt fand - denn von der jahrelangen brutalsten, nachhaltigen Schlechtbehandlung als Kind und Jugendlicher erholt sich ein Mensch psychisch und sozial wohl nicht mehr. Auch von den Prozessen gegen die Akteure erfahren wir zum Schluss, Genugtuung kann das nicht geben, eher bleibende Ratlosigkeit.
 
Warum sollte man so etwas lesen? Für mich einen Grund lieferte die anschließende Lektüre einer Dissertation über die oben genannte ärztliche Untersuchungsmethode. Eine Punktion der Wirbelsäule, Ablassen der das Gehirn umschließenden Flüssigkeit und Einpumpen von Luft als Kontrastmittel. Ich habe diese Schrift gesucht und gelesen, weil ich fast nicht glauben konnte, dass Professoren der Medizin solches tatsächlich getrieben haben. Und siehe da, selbst diese Dissertation eines Mediziners der Berliner Charite (Gergely Klinda: zur Geschichte der Pneumenzaphalografie, Universität Berlin, 2010)beschreibt diese barbarische Aktion sachlich. Die Qualen des Patienten heißen auch heute noch neutral "Nebenwirkungen". Für und Wider der Methode wird abgehandelt. Natürlich ist das Verfahren heute obsolet. Damals wurde extra ein medizinisches Instrumentarium aus komplizierten Röhren und Schläuchen sowie umfangreichste Fachliteratur um diese Methode geschaffen. Und das ist es: nur ein Roman wie "Die Erwählten" gibt uns die Möglichkeit, solches wissenschaftlich und politisch gerechtfertigtes ärztliches Tun in seiner Wirkung ganzheitlich wahrzunehmen und das Perverse daran zu erkennen. Die faktische Darstellung von Historikern oder Medizinern hilft uns da nicht. Absolut lesenswert und fesselnd - für starke Nerven.