Donnerstag, 27. April 2017

Lesetipp Mai 2017: Alberto Barrera Tyszka, Die letzten Tage des Comandante


Heute stelle ich Euch zur Abwechslung mal wieder ein richtiges „Lesebuch“ vor, will meinen einen Roman. Aus Venezuela diesmal, dem wohl einzigen Land der Welt, in dem zu meiner kollegialen Befriedigung ein Busfahrer Staatspräsident sein kann: Nicolás Maduro. 

Dem Land auch, aus dem zur Zeit dramatische Nachrichten kommen: Unruhen, Versorgungsengpässe, Unsicherheit. Natürlich kommt hier bei uns immer nur ein Teil der Wahrheit an, und der lautet: läuft es irgendwo schlecht und ist die Regierung eine linke, dann liegt es immer an dieser.  Dass es ganz so einfach nicht ist, wissen wir aus der langen Geschichte lateinamerikanischer
Umbrüche, die immer wieder auch Inhalt ganz prächtiger Literatur sind, zum Beispiel bei Gabriel Garcia Marquez oder Isabell Allende.

Auch der heutige Lesetipp ist so ein Stück lateinamerikanischer Literatur, die politische Dramatik aus der Sicht von betroffenen „Normalmenschen“ sehr poetisch erzählt.

Jener Präsident Maduro verkündete als dessen Vize am 5. März 2013 den Tod des in Venezuela hochverehrten Staatspräsidenten Hugo Chavez. Dieser endgültigen Nachricht war im Winter 2012/2013 ein langer und sehr besonderer, auch absonderlicher Sterbeprozess vorangegangen. Chavez lebte seit etwa 2010 mit einer Krebsdiagnose, hatte sich diversen Behandlungen unterzogen. Er war mehrmals in Havanna zu Operationen und Therapien, wochenlang nicht öffentlich sichtbar. Hatte sich schon als gesund zurück gemeldet, war dann wieder unsichtbar. Gerade weil sein Staatssystem unter anderem auf Personenkult und –verehrung aufgebaut war, erzeugte dieser Zustand eine sehr seltsame Stimmung in Venezuela, aber auch in den befreundeten Linksländern wie Bolivien, Ecuador und Nicaragua. Die seit Jahren gewohnten sonntäglichen Reden des Comandante im Fernsehen blieben aus, eine zuverlässige  stringente Berichterstattung über Krankheit oder Genesung gab es aber auch nicht, das Umfeld des zusehends handlungsunfähigen Chavez war sich wohl nicht einig, was zu sagen und was zu verschweigen sei. Völlig ungewohnt wusste die Bevölkerung seit langer Zeit zum ersten Mal nicht: wo ist eigentlich Chavez? Gleichzeitig gab es riesige Solidaritätskonzerte und Beistandsbotschaften auf den zentralen Plätzen der befreundeten Länder unter der Teilnahme der dortigen Regierungschefs. Manchmal war es, als sei der Krebs eine Attacke der Feinde des Chavismus, dem gemeinsam getrotzt werden müsse. Gleichzeitig konnte Hugo Chavez seit Monaten nicht als Präsident vereidigt werden, als der er am 7. Oktober wieder gewählt worden war, die Opposition zeterte von Verfassungsbruch und forderte Neuwahlen.

In dieser verschwommenen, seelenunsicheren Zeitspanne spielt der Roman „Die letzten Tage des Comandante“ von Alberto Barrera Tyszka. Tyszka, Venezuelaner  in unserem Alter (56) hat bereits von Jahren eine dokumentarische Biografie über Chavez geschrieben, kennt sich also aus. Vor allem versteht er es in diesem Roman, die Stimmungen und Bedeutungen, die Hugo Chavez für unterschiedliche Menschen in seinem Land hatte, Menschen mit unterschiedliche Biografien und Lebenswelten, zu schildern und offen zu legen.

Die Protagonisten des Buches bewohnen ein größeres Haus, ein Condominio, in Caracas, was sie lose verbindet und ihre Geschichten verwebt. Da ist ein Brüderpaar in den 60ern, das die Polarisierung der chavistischen Gesellschaft verkörpert: man ist entweder pro Chavez und zwar voll und ganz oder man hasst ihn. Das ganze Leben ist politisiert, Neutralität fast unmöglich. Dann gibt es auch den verkrachten Journalisten Fredy Lecuna, Familienvater mit 10 jährigem Sohn,  der über verbreitete Selbstzensur klagt und längst kein Einkommen mehr erzielt, das die Familie ernähren kann. Dazu kündigt seine Vermieterin, Eigentümerin der Wohnung Lecunas, ihre Rückkehr und damit den Rauswurf der Familie aus der Wohnung an.

Auf der Suche nach bezahlter Arbeit kommt Lecuna an den Auftrag, über den erkrankten Präsidenten zu schreiben. Dies führt ihn zu zwielichtigen Informanten, einer Liebschaft und letztlich nach Kuba, wo er offenbar an hochbrisantes Videomaterial kommt, aber für den Fall der Veröffentlichung mit dem Leben bedroht wird. Das Video bleibt für den Leser bis zum Ende des Buches unbekannt und obskur, eine Allegorie des auch nach dem Tod weiter bestehenden Mythos Chavez.

Ausserdem wohnt in dem Haus zum Beispiel das etwa siebenjährige Mädchen Maria, dessen Mutter, von der Alltagsgewalt in der Stadt depressiv und zur obsessiven Kettenraucherin geworden, ihr aus Angst um sie den Schulbesuch untersagt und sie in der Wohnung fest hält, aus der sie erst flieht, als die Mutter gestorben ist. Draussen trifft sie den Lecuna-Sohn Rodrigo, mit dem sie zuerst eine Internet-, dann tatsächliche Kinderliebesbeziehung beginnt, hoffnungslos, hoffnungsvoll.

Noch mehr Handlungsstränge ziehen sich durch den Roman und ermöglichen dem Leser, sich in verschiedenste Lebenssituationen hin zu versetzen. Ãœber allem liegt wie eine Glocke die absurde Unkenntnis, was denn nun eigentlich mit dem zerzausten, aufgewühlten Land und seinem Präsidenten los ist. Es treten Personen auf, die sehr klar in Präsident Chavez bei aller Unzulänglichkeit des Alltagslebens den Erlöser der ewig benachteiligten und betrogenen „Einfachen Leute“ Venezuelas sehen. Der Unterschied, den Chavez mache, sei, dass über die einfachen Leute, Indigenas, Arme aller Art, im Chavez-Staat gesprochen werde, dass es um sie gehe. Das gebe diesen Menschen Würde, etwas, was sie in den achtlosen Regimen der rechten Parteien und Juntas nie gehabt hätten, sie seinen unsichtbar gewesen.

Gleichzeitig treffen wir Bürger, die Chavez und sein System zutiefst verachten und für falsch halten. Die persönlichen Lebenswindungen sind emotional und latinobunt geschildert, sie packen den Leser am Herzen, rühren zu Tränen und machen die enge Verbindung zwischen Politik und Leben, Regierenden und Regierten spürbar.

Ein spannender, ungewöhnlicher  Roman, für mich persönlich schon deshalb, weil ich die Monate der erzählten Zeit selbst in Nicaragua verbracht habe, einem Land, das dem befreundeten Venezuela unter Chavez eine Menge verdankt an Entwicklungshilfe und Bedeutungsaufschwung. Die ganze verhexte Stimmung war bis dorthin eindrücklich zu spüren. Die Galaveranstaltung unter Anwesenheit der gesamten Regierungsspitze Nicaraguas auf der Plaza de la Revolucion in Managua für den kranken Comandante war beeindruckend, wurde stundenlang  life im Fernsehen übertragen. 

Es war wie eine Trauerfeier, aber Chavez und der „Chavismo“ waren zu dem Zeitpunkt nicht tot. Noch nicht. Oder?


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