Heute stelle ich Euch zur Abwechslung
mal wieder ein richtiges „Lesebuch“ vor, will meinen einen Roman. Aus Venezuela
diesmal, dem wohl einzigen Land der Welt, in dem zu meiner kollegialen
Befriedigung ein Busfahrer
Staatspräsident sein kann: Nicolás Maduro.
Dem Land auch, aus dem zur Zeit dramatische
Nachrichten kommen: Unruhen, Versorgungsengpässe, Unsicherheit. Natürlich kommt
hier bei uns immer nur ein Teil der Wahrheit an, und der lautet: läuft es irgendwo
schlecht und ist die Regierung eine linke, dann liegt es immer an dieser. Dass es ganz so einfach nicht ist, wissen wir
aus der langen Geschichte lateinamerikanischer
Umbrüche, die immer wieder auch
Inhalt ganz prächtiger Literatur sind, zum Beispiel bei Gabriel Garcia Marquez
oder Isabell Allende.
Auch der heutige Lesetipp ist so ein
Stück lateinamerikanischer Literatur, die politische Dramatik aus der Sicht von
betroffenen „Normalmenschen“ sehr poetisch erzählt.
Jener Präsident Maduro verkündete als
dessen Vize am 5. März 2013 den Tod des in Venezuela hochverehrten
Staatspräsidenten Hugo Chavez. Dieser endgültigen Nachricht war im Winter
2012/2013 ein langer und sehr besonderer, auch absonderlicher Sterbeprozess
vorangegangen. Chavez lebte seit etwa 2010 mit einer Krebsdiagnose, hatte sich
diversen Behandlungen unterzogen. Er war mehrmals in Havanna zu Operationen und
Therapien, wochenlang nicht öffentlich sichtbar. Hatte sich schon als gesund zurück
gemeldet, war dann wieder unsichtbar. Gerade weil sein Staatssystem unter
anderem auf Personenkult und –verehrung aufgebaut war, erzeugte dieser Zustand
eine sehr seltsame Stimmung in Venezuela, aber auch in den befreundeten
Linksländern wie Bolivien, Ecuador und Nicaragua. Die seit Jahren gewohnten
sonntäglichen Reden des Comandante im Fernsehen blieben aus, eine zuverlässige stringente Berichterstattung über Krankheit
oder Genesung gab es aber auch nicht, das Umfeld des zusehends
handlungsunfähigen Chavez war sich wohl nicht einig, was zu sagen und was zu
verschweigen sei. Völlig ungewohnt wusste die Bevölkerung seit langer Zeit zum
ersten Mal nicht: wo ist eigentlich Chavez? Gleichzeitig gab es riesige
Solidaritätskonzerte und Beistandsbotschaften auf den zentralen Plätzen der
befreundeten Länder unter der Teilnahme der dortigen Regierungschefs. Manchmal
war es, als sei der Krebs eine Attacke der Feinde des Chavismus, dem gemeinsam
getrotzt werden müsse. Gleichzeitig konnte Hugo Chavez seit Monaten nicht als
Präsident vereidigt werden, als der er am 7. Oktober wieder gewählt worden war,
die Opposition zeterte von Verfassungsbruch und forderte Neuwahlen.
In dieser verschwommenen,
seelenunsicheren Zeitspanne spielt der Roman „Die letzten Tage des Comandante“
von Alberto Barrera Tyszka. Tyszka, Venezuelaner in unserem Alter (56) hat bereits von Jahren
eine dokumentarische Biografie über Chavez geschrieben, kennt sich also aus.
Vor allem versteht er es in diesem Roman, die Stimmungen und Bedeutungen, die
Hugo Chavez für unterschiedliche Menschen in seinem Land hatte, Menschen mit
unterschiedliche Biografien und Lebenswelten, zu schildern und offen zu legen.
Die Protagonisten des Buches bewohnen
ein größeres Haus, ein Condominio, in Caracas, was sie lose verbindet und ihre
Geschichten verwebt. Da ist ein Brüderpaar in den 60ern, das die Polarisierung
der chavistischen Gesellschaft verkörpert: man ist entweder pro Chavez und zwar
voll und ganz oder man hasst ihn. Das ganze Leben ist politisiert, Neutralität
fast unmöglich. Dann gibt es auch den verkrachten Journalisten Fredy Lecuna,
Familienvater mit 10 jährigem Sohn, der
über verbreitete Selbstzensur klagt und längst kein Einkommen mehr erzielt, das
die Familie ernähren kann. Dazu kündigt seine Vermieterin, Eigentümerin der
Wohnung Lecunas, ihre Rückkehr und damit den Rauswurf der Familie aus der
Wohnung an.
Auf der Suche nach bezahlter Arbeit
kommt Lecuna an den Auftrag, über den erkrankten Präsidenten zu schreiben. Dies
führt ihn zu zwielichtigen Informanten, einer Liebschaft und letztlich nach Kuba,
wo er offenbar an hochbrisantes Videomaterial kommt, aber für den Fall der
Veröffentlichung mit dem Leben bedroht wird. Das Video bleibt für den Leser bis
zum Ende des Buches unbekannt und obskur, eine Allegorie des auch nach dem Tod
weiter bestehenden Mythos Chavez.
Ausserdem wohnt in dem Haus zum
Beispiel das etwa siebenjährige Mädchen Maria, dessen Mutter, von der Alltagsgewalt
in der Stadt depressiv und zur obsessiven Kettenraucherin geworden, ihr aus Angst um sie den
Schulbesuch untersagt und sie in der Wohnung fest hält, aus der sie erst
flieht, als die Mutter gestorben ist. Draussen trifft sie den Lecuna-Sohn
Rodrigo, mit dem sie zuerst eine Internet-, dann tatsächliche
Kinderliebesbeziehung beginnt, hoffnungslos, hoffnungsvoll.
Noch mehr Handlungsstränge ziehen
sich durch den Roman und ermöglichen dem Leser, sich in verschiedenste
Lebenssituationen hin zu versetzen. Ãœber allem liegt wie eine Glocke die
absurde Unkenntnis, was denn nun eigentlich mit dem zerzausten, aufgewühlten
Land und seinem Präsidenten los ist. Es treten Personen auf, die sehr klar in
Präsident Chavez bei aller Unzulänglichkeit des Alltagslebens den Erlöser der
ewig benachteiligten und betrogenen „Einfachen Leute“ Venezuelas sehen. Der
Unterschied, den Chavez mache, sei, dass über die einfachen Leute, Indigenas,
Arme aller Art, im Chavez-Staat gesprochen
werde, dass es um sie gehe. Das gebe diesen Menschen Würde, etwas, was sie in den achtlosen Regimen
der rechten Parteien und Juntas nie gehabt hätten, sie seinen unsichtbar
gewesen.
Gleichzeitig treffen wir Bürger, die
Chavez und sein System zutiefst verachten und für falsch halten. Die
persönlichen Lebenswindungen sind emotional und latinobunt geschildert, sie
packen den Leser am Herzen, rühren zu Tränen und machen die enge Verbindung
zwischen Politik und Leben, Regierenden und Regierten spürbar.
Ein spannender, ungewöhnlicher Roman, für mich persönlich schon deshalb, weil
ich die Monate der erzählten Zeit selbst in Nicaragua verbracht habe, einem Land, das dem befreundeten Venezuela unter Chavez eine Menge verdankt an Entwicklungshilfe und Bedeutungsaufschwung. Die ganze verhexte Stimmung war bis dorthin eindrücklich zu
spüren. Die Galaveranstaltung unter Anwesenheit der gesamten Regierungsspitze Nicaraguas
auf der Plaza de la Revolucion in Managua für den kranken Comandante war
beeindruckend, wurde stundenlang life im
Fernsehen übertragen.
Es war wie eine Trauerfeier, aber Chavez und der „Chavismo“
waren zu dem Zeitpunkt nicht tot. Noch nicht. Oder?
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