Der fulminante Roman „Serotonin“ schreit nach einer Beendigung meiner Besprechungspause von über einem Jahr, die fortgesetzten intensiven Renovierungsarbeiten am Haus von Oz geschuldet war und auch, tatsächlich, recht viel Arbeit am eigenen Buch – zusätzlich zum Trambahncruisen.
Michel Houellebecq hat nicht viel
Zeit vergehen lassen nach der großen Welle um sein Werk zum Thema Islam in
Frankreich, „Unterwerfung“. Mit dem Nachfolger „Serotonin“ folgt wieder eine
Verarbeitung des aktuellen Lebens in Frankreich, Mitteleuropa und auf dem
Globus. Der Protagonist, Florent-Claude
Labrouste (ja, er verachtet seinen Namen ebenfalls aus voller Seele), nimmt
regelmäßig ein Antidepressivum namens „Captorix“ ein, das den Serotoninspiegel
in ihm hebt. Anders erträgt er sein Leben nicht. Nicht dass er
selbstmordgefährdet wäre („der Tod interessiert mich nicht“). Aber gewisse
Ticks wie z.B. die Unmöglichkeit, sich zu waschen machen ihm zu schaffen.
Die Depression des Protagonisten
drückt sich darüber hinaus auf vielerlei Ebenen aus, hat diverse Ursachen, die
sich im Laufe des Romans sehr verständlich verdichten. Letztendlich hält er
sein Leben nicht für fortsetzbar, Glück ist nicht mehr zu erwarten.
Oberflächlich hauptsächlich deshalb, weil er (wieder ein Houellebecq-Held) mit
seiner Schwäche für den erotischen Sog attraktiver junger Frauen die Beziehung
mit der Liebe seines Lebens zerstört hat. Doch das ist bei weitem nicht das Thema hinter dem Thema. Vielmehr entwickelt der Autor
zusammen mit seinem Schützling Labrouste im Verlauf des Buches immer mehr das
Bild einer für ihn hoffnungslosen Welt.
Da ist die Zerstörung der
Lebensgrundlagen vieler Franzosen, z.B. von Bauern, durch die Weltökonomie, die
nicht im Geringsten Qualität und Tradition belohnt, sondern ausschließlich auf
götzenartig verehrte Grundsätze wie „Leistung“, und „Wettbewerb“ setzt. Gerade
der Genuss des Essens, den Franzosen einst identitätsstiftend wichtig, wird auf
allen Ebenen angegriffen. Französische Produkte sind auf dem Weltmarkt viel zu
teuer, um breit bekannt zu werden. Selbst in Frankreich können sie leicht
ersetzt werden. Milchbauern in der
Normandie gehen im Roman exemplarisch für viele Existenzen an der Abschaffung
der Milchquote in der EU zugrunde. Als diese Bauern später im Buch in Persona
des Schulfreundes des Erzählers, Aymeric, streikend die Milchproduktion
einstellen, stehen binnen 2 Tagen Milchlaster aus Brasilien und Irland in
Calais bereit.
Da ist die Zerstörung der
sinngebenden Arbeit. Labrouste selbst teilt das Schicksal zahlreicher Berater
und Führungskräfte im realen europäischen Leben: Er erlebt beispielhaft seine
Arbeit, die im Entwerfen von Marketingplänen für französische Agrarprodukte besteht,
als von vorne herein gescheitert, sinnlos und den Verfall der bestehenden
Industrie nicht aufhaltend. (Nicht wenige
von diesen „Change Managern“ steigen aus, um oder werden aus Nostalgie Trambahnfahrer,
was natürlich ebenfalls keine Reparatur der vergehenden "old economy" ermöglicht). Sein
bereits erwähnter Schulfreund kommt mit seinem selbst gewählten Beruf als
Biobauer nie aus den roten Zahlen und muss Stück für Stück ererbten Landbesitz
verkaufen.
Dies ist ein weiteres Leitmotiv: eine
gewisse bürgerliche Schicht lebt buchstäblich von dem Rest eines vergangenen Erfolges. Der depressive Labrouste erbt einige Hundertausend Euro, eine dem
Alkohol anheim gefallene Freundin erbt
eine Wohnung in Paris, die nun Millionen wert ist, der Freund in der Normandie
bebaut ererbtes Land. Selbst erschaffen diese Leute keine Werte mehr. Und auch die eine, schon in der Planung schwer hirnschwurbelige Tat, die sich Labrouste vornimmt, scheitert in der Ausführung.
Auch alle „guten“ Gegenstände des
Romans sind Relikte und werden entsprechend verklärt. Das Auto des Erzählers
ein „Mercedes G 350“ aus der ersten G - Baureihe, ein anachronistisches Dieselschluckmonster.
Die Waffe, die eine gewisse Rolle spielen wird ist eine „SteyrMannlicher“, ein
Präzisionsgewehr aus Kriegen, in denen noch Menschen und keine Drohnen
schossen, eine Stereoanlage mit einem Plattenspieler „Technics SL 1210 MK 2“
„Klipschorn Boxen“ von 1949 ist offensichtlich ein wahres Klangwunder. Die
Restaurants, die der Erzähler aufsucht: aus der Zeit gefallene Brasserien, wie
sie jede Woche in Paris geschlossen werden.
Die Liebe: die letzten Glücklichen
waren die Eltern des Erzählers. Sie führten eine lebenslange, innige
Liebesbeziehung, beendet durch gemeinsamen harmonischen Selbstmord, vom Sohn
letztlich nie verstanden. Zur Erzählzeit: nur Bettstorys, Scheitern und Betrug.
Auch die Figur des Erzählers selbst –
gelebte Vergangenheit. Er ist Macho, bewundert und disrespektiert Frauen, lässt
lässliche Bemerkungen über diese und jene Nationalitäten fallen, so, wie man
das von einige Jahrzehnten durchaus noch machen konnte ohne aufzufallen. Ohne
Alkohol vergeht bei ihm kein Tag, auch das war Mitte des 20. Jahrhunderts
kulturell Gang und Gäbe. Seine Suche nach einem Hotel, in dem er noch rauchen
kann ist ihm tagelange Internetrecherche
wert. Aus Überdruss verlässt er sein Leben mit einer illustren japanischen Tochter durch Verschwinden. Soviel zu der Frage, die jeder Houellebecq-Roman aufwirft: ist der
Erzähler der Autor? Nope, so ist der exzentrische Literat bestimmt auch wieder nicht. Oder doch? (Houellebecq hat im September eine Shanghaierin geheiratet.)
Die Handlung ist nicht so üppig. Es
gibt einige gar schreckliche Vorkommnisse wie z.B. Fotosessions eines
Pädophilen mit einem kleinen Mädchen, die der Erzähler beobachtet und
persönlich eklig findet. Videofunde, die die letzte Freundin des Erzählers in
Gangbangs zeigt, nicht nur mit Männern. Die heutzutage unbedingt verpflichtende
Generalempörung bleibt jedoch aus. Das ist ja auch inzwischen Bestandteil der erlebten
Realität, oder wieviele Teilnehmer umfassen die immer wieder aufgedeckten
Pädophilenringe? Wieviele Clics ist die Gangbang-Abteilung von Youporn
entfernt?
Einige Figuren und Szenen sind
wirklich kunstvoll kurios geschildert, wie der Arzt Dr. Azote, den Labrouste
für seine Rezepte aufsucht. Geht es in
dem Buch nun um Liebe? Einige Besprechungen behaupten, die Aussage des Romans
sei: „Liebe ist die Antwort“ und finden das dünn. Ich glaube das nicht. Die
Aussage ist eher: die Welt, wie wir sie kannten und liebten (vor allem wir
Bürgerlichen vom Gender „Er zu Sie“), die ist perdu. Man sieht ihre Gestalt
noch, genug um darum zu trauern. Keine Chance, sie wieder zu beleben. Schlimm?
Keine Ahnung. Unterhält diese ungewöhnliche Schilderung des bürgerlichen Zusammenbruchs?
Auf jeden Fall und zwar fesselnd. Das erste Buch seit langem, das ich umgehend von vorne wieder angefangen
habe zu lesen, als ich damit durch war.