Sonntag, 16. August 2020

Lesetipp August 2020: Bernd Cailloux, „Gutgeschriebene Verluste“ und „Der Amerikanische Sohn“

Der amerikanische Sohn" von Bernd Cailloux: Weg mit Fassung 101 ...
Bernd Cailloux  

 

 

Diesmal gibt es gleich 2 Buchempfehlungen in einem, "Gutgeschriebene Verluste" und "Der Amerikanische Sohn". Genau genommen müsste dazu noch „Das Geschäftsjahr 1968/69“ genommen werden. Diese drei Romane des 75-jährigen Autors Bernd Cailloux bilden nämlich eine „autobiografische Trilogie“, in die hineinzulesen es sich wirklich lohnt, wenn…

 

 

 

… man gerne in Literatur verwandelte Erzählungen aus der Vergangenheit von Leuten hört/liest, die vergleichsweise ungewöhnlich gelebt haben,

… einen die Frage nach „den 68ern“ immer noch lockt: wie war das damals wirklich und mit wem und warum?

… selbstkritische Reflexionen eines weder Gescheiterten noch es geschafft Habenden, ehrlichen, tiefen, nicht immer wirklich gut gelaunten Menschen Spaß machen können.

 Cailloux, ein vermutlich nicht mal sehr netter, wohl aber sehr gebildeter, großzügiger, hedonistischer 75 -jähriger erzählt in den drei Romanen sein Leben. Wobei durchaus Phasen, Erlebtes und Weggefährten in den einzelnen Büchern doppelt vorkommen, aus verschiedenen Gesichtspunkten noch einmal geschildert und vorgeführt werden. Chronologie ist nicht wichtig, Erlebnisse in der einen Zeitebene führen zu Erinnerungen an längst Vergangenes. Ein spannendes Gewebe.  In „Gutgeschriebene Verluste“ bilden Beziehungen zu Frauen das Hauptgerüst für die Lebenserzählung.

  Cailloux, eher der Typ „lonely wolf“ aber doch natürlich Teilnehmer in zahllosen Beziehungskisten, geht sehr gerecht und nachsichtig mit seinen „Exen“ um, liebevoll schildert er, was ihn jeweils gelockt hat, was fast unerträglich war. Nie wird er böse oder nachtragend. Das nur seiner leiblichen Mutter gegenüber, die ihn offensichtlich unter miesen Umständen als Neugeborenen verlassen hat. Die Zeittapete, die er im Hintergrund der Paarzeiten schildert, sind die 68er. Selbstbefreiung, Kulturerwachen, Emanzipation von einer naziverseuchten Elterngeneration und Antithese zum eigenst deutschen Autoritarismus. Viel ist darüber schon geschrieben worden, bei Cailloux kommt man trotzdem gerne mit auf Hamburger und Berliner Kneipenzüge, lernt skurile Figuren kennen und erfährt, dass die Wendung einiger in Richtung „Bewaffneter Kampf“ und RAF für Cailloux und seine Kreise eine Diskreditierung der Bewegung, eine arge Beleidigung und Beschmutzung darstellte.

 Die Entdeckung der Drogen, das Verbergen der Genusssucht hinter "experimentellen Erfahrungen", die Kosten dieser abenteuerlichen Räusche, hier alles weder heroische noch verurteilende Erzählungen. Der moralische Kompass des Erzählers ist rückwirkend erfreulich klar. Klar ist aber auch das Verständnis und das Mitfühlen mit den Abenteuerern in den legendären Lokalen und höhlenartigen Altbauwohnungen der späten 60er. Die Möglichkeit, im Jahr 1968 inmitten der größten Konsumkritik flink und "politically correct" auch sehr viel Geld zu verdienen, Cailloux erzählt es so, dass man kaum weghören kann, er hat es selbst erlebt.

 Diese Zeit, ihre Abenteuer und Genüsse bekommt man wieder zu Gemüte geführt im „Amerikanischen Sohn“, dort jedoch mit einem Lebensschwerpunkt USA. Der Erzähler sucht seinen Sohn, für den er von dessen Mutter 30 Jahre zuvor lediglich als Samenspender ge- oder missbraucht worden war, den er nur als 3-jährigen einmal kurz gesehen hat, in New York und später in Menlo Park. Dabei wandert er viele Kilometer in Manhatten und anderen Symbolorten ab und erinnert sich an frühere Staaten-Aufenthalte mit Freunden und Weggefährten, die die Quelle der Befreiungskultur Europas, die gehassliebten USA, schon früh mit eigenen Augen sehen wollten. Den Sohn findet er sehr spät, weite Teile der Erzählung scheint es dem Leser, dass die Suche schon das Ziel sei, der Autor selbst, so wie viele deutsche Rock 'n Roller, ein „amerikanischer Sohn“ ist. 

 Klassische Konflikte und Spannungsbögen sind in Caillouxs Schreibstil nicht erforderlich, der Erzählfluß ist selbst so humorvoll, manchmal ironisch, manchmal anrührend. Man will den Held, der er sicher nicht ist (oder doch?), seine Frauen, seine Freunde und Feinde am Liebsten nicht verlassen. Deshalb werde ich auch das für mich dritte, chronologisch das erste Buch, jetzt dann gleich auch noch lesen.