Freitag, 1. März 2019

Lesetipp März 2019: Michel Houellebecq, Serotonin


Der fulminante Roman „Serotonin“ schreit nach einer Beendigung meiner Besprechungspause von über einem Jahr, die  fortgesetzten intensiven Renovierungsarbeiten am Haus von Oz geschuldet war und auch, tatsächlich, recht viel Arbeit am eigenen Buch – zusätzlich zum Trambahncruisen.

Michel Houellebecq hat nicht viel Zeit vergehen lassen nach der großen Welle um sein Werk zum Thema Islam in Frankreich, „Unterwerfung“. Mit dem Nachfolger „Serotonin“ folgt wieder eine Verarbeitung des aktuellen Lebens in Frankreich, Mitteleuropa und auf dem Globus.  Der Protagonist, Florent-Claude Labrouste (ja, er verachtet seinen Namen ebenfalls aus voller Seele), nimmt regelmäßig ein Antidepressivum namens „Captorix“ ein, das den Serotoninspiegel in ihm hebt. Anders erträgt er sein Leben nicht. Nicht dass er selbstmordgefährdet wäre („der Tod interessiert mich nicht“). Aber gewisse Ticks wie z.B. die Unmöglichkeit, sich zu waschen machen ihm zu schaffen.

Die Depression des Protagonisten drückt sich darüber hinaus auf vielerlei Ebenen aus, hat diverse Ursachen, die sich im Laufe des Romans sehr verständlich verdichten. Letztendlich hält er sein Leben nicht für fortsetzbar, Glück ist nicht mehr zu erwarten. Oberflächlich hauptsächlich deshalb, weil er (wieder ein Houellebecq-Held) mit seiner Schwäche für den erotischen Sog attraktiver junger Frauen die Beziehung mit der Liebe seines Lebens zerstört hat. Doch das ist bei weitem nicht das Thema hinter dem Thema. Vielmehr entwickelt der Autor zusammen mit seinem Schützling Labrouste im Verlauf des Buches immer mehr das Bild einer für ihn hoffnungslosen Welt.

Da ist die Zerstörung der Lebensgrundlagen vieler Franzosen, z.B. von Bauern, durch die Weltökonomie, die nicht im Geringsten Qualität und Tradition belohnt, sondern ausschließlich auf götzenartig verehrte Grundsätze wie „Leistung“, und „Wettbewerb“ setzt. Gerade der Genuss des Essens, den Franzosen einst identitätsstiftend wichtig, wird auf allen Ebenen angegriffen. Französische Produkte sind auf dem Weltmarkt viel zu teuer, um breit bekannt zu werden. Selbst in Frankreich können sie leicht ersetzt werden.  Milchbauern in der Normandie gehen im Roman exemplarisch für viele Existenzen an der Abschaffung der Milchquote in der EU zugrunde. Als diese Bauern später im Buch in Persona des Schulfreundes des Erzählers, Aymeric, streikend die Milchproduktion einstellen, stehen binnen 2 Tagen Milchlaster aus Brasilien und Irland in Calais bereit.

Da ist die Zerstörung der sinngebenden Arbeit. Labrouste selbst teilt das Schicksal zahlreicher Berater und Führungskräfte im realen europäischen Leben: Er erlebt beispielhaft seine Arbeit, die im Entwerfen von Marketingplänen für französische Agrarprodukte besteht, als von vorne herein gescheitert, sinnlos und den Verfall der bestehenden Industrie nicht aufhaltend. (Nicht wenige von diesen „Change Managern“ steigen aus, um oder werden aus Nostalgie Trambahnfahrer, was natürlich ebenfalls keine Reparatur der vergehenden "old economy" ermöglicht). Sein bereits erwähnter Schulfreund kommt mit seinem selbst gewählten Beruf als Biobauer nie aus den roten Zahlen und muss Stück für Stück ererbten Landbesitz verkaufen.

Dies ist ein weiteres Leitmotiv: eine gewisse bürgerliche Schicht lebt buchstäblich von dem Rest eines vergangenen Erfolges. Der depressive Labrouste erbt einige Hundertausend Euro, eine dem Alkohol anheim  gefallene Freundin erbt eine Wohnung in Paris, die nun Millionen wert ist, der Freund in der Normandie bebaut ererbtes Land. Selbst erschaffen diese Leute keine Werte mehr. Und auch die eine, schon in der Planung schwer hirnschwurbelige Tat, die sich Labrouste vornimmt, scheitert in der Ausführung.

Auch alle „guten“ Gegenstände des Romans sind Relikte und werden entsprechend verklärt. Das Auto des Erzählers ein „Mercedes G 350“ aus der ersten G - Baureihe, ein anachronistisches Dieselschluckmonster. Die Waffe, die eine gewisse Rolle spielen wird ist eine „SteyrMannlicher“, ein Präzisionsgewehr aus Kriegen, in denen noch Menschen und keine Drohnen schossen, eine Stereoanlage mit einem Plattenspieler „Technics SL 1210 MK 2“ „Klipschorn Boxen“ von 1949 ist offensichtlich ein wahres Klangwunder. Die Restaurants, die der Erzähler aufsucht: aus der Zeit gefallene Brasserien, wie sie jede Woche in Paris geschlossen werden.

Die Liebe: die letzten Glücklichen waren die Eltern des Erzählers. Sie führten eine lebenslange, innige Liebesbeziehung, beendet durch gemeinsamen harmonischen Selbstmord, vom Sohn letztlich nie verstanden. Zur Erzählzeit:  nur Bettstorys, Scheitern und Betrug.

Auch die Figur des Erzählers selbst – gelebte Vergangenheit. Er ist Macho, bewundert und disrespektiert Frauen, lässt lässliche Bemerkungen über diese und jene Nationalitäten fallen, so, wie man das von einige Jahrzehnten durchaus noch machen konnte ohne aufzufallen. Ohne Alkohol vergeht bei ihm kein Tag, auch das war Mitte des 20. Jahrhunderts kulturell Gang und Gäbe. Seine Suche nach einem Hotel, in dem er noch rauchen kann ist ihm tagelange  Internetrecherche wert. Aus Überdruss verlässt er sein Leben mit einer illustren japanischen Tochter durch Verschwinden. Soviel zu der Frage, die jeder Houellebecq-Roman aufwirft: ist der Erzähler der Autor? Nope, so ist der exzentrische  Literat bestimmt auch wieder nicht. Oder doch? (Houellebecq hat im September eine Shanghaierin geheiratet.)

Die Handlung ist nicht so üppig. Es gibt einige gar schreckliche Vorkommnisse wie z.B. Fotosessions eines Pädophilen mit einem kleinen Mädchen, die der Erzähler beobachtet und persönlich eklig findet. Videofunde, die die letzte Freundin des Erzählers in Gangbangs zeigt, nicht nur mit Männern. Die heutzutage unbedingt verpflichtende Generalempörung bleibt jedoch aus. Das ist ja auch inzwischen Bestandteil der erlebten Realität, oder wieviele Teilnehmer umfassen die immer wieder aufgedeckten Pädophilenringe? Wieviele Clics ist die Gangbang-Abteilung von Youporn entfernt?

Einige Figuren und Szenen sind wirklich kunstvoll kurios geschildert, wie der Arzt Dr. Azote, den Labrouste für seine Rezepte aufsucht.  Geht es in dem Buch nun um Liebe? Einige Besprechungen behaupten, die Aussage des Romans sei: „Liebe ist die Antwort“ und finden das dünn. Ich glaube das nicht. Die Aussage ist eher: die Welt, wie wir sie kannten und liebten (vor allem wir Bürgerlichen vom Gender „Er zu Sie“), die ist perdu. Man sieht ihre Gestalt noch, genug um darum zu trauern. Keine Chance, sie wieder zu beleben. Schlimm? Keine Ahnung. Unterhält diese ungewöhnliche Schilderung des bürgerlichen Zusammenbruchs? Auf jeden Fall und zwar fesselnd. Das erste Buch seit langem, das ich umgehend von vorne wieder angefangen habe zu lesen, als ich damit durch war.