Mittwoch, 30. Dezember 2020

Lesetipp Dezember 2020: Der Große Umbruch (The Great Reset) von Klaus Schwab und Thierry Malleret

 

Diesmal stelle ich Euch ein Buch vor, das mir persönlich sehr geholfen hat, zumindest zeitweise eine einigermaßen „erwachsene“ Haltung zu finden zur Corona-Pandemie und ihren strukturbruchartigen Veränderungen unserer Lebenswirklichkeit. Das Buch als solches ist jetzt nicht ein so bahnbrechendes Werk, dass es per se Eingang in diesen Blog gefunden hätte. Ich empfehle es – entgegen dem allgemeinen Zweck von „linie19“ - auch nicht uneingeschränkt jedem als Lektüre.  Aber es kann helfen, Corona anders zu begreifen. Und es gilt, ein großes Missverständnis aufzuklären:  In den „sozialen“ Medien wird vor allem der griffige englische Titel ständig zitiert und mahnend genannt als ein Konzept, um mit Hilfe der Corona-Pandämie eine fiese Weltherrschaft zu errichten.  Und das ist das Buch sicher nicht.

Der Autor Prof. Klaus Schwab ist eigentlich bekannt und erfolgreich als Erfinder, Gründer und Geschäftsführer des Weltwirtschaftsforum, World Economic Forum, WEF (weforum.org). Das WEF versteht sich als „die internationale Organisation für öffentlich-private Kooperation“. Als solche richtet sie seit Jahren die viel beachtete und regelmäßig von heftigen Protesten begleitete gleichnamige  Veranstaltung in Davos aus. (2021 soll sie in Singapur stattfinden.)

Die Organisation ist klar marktwirtschaftlich (kapitalistisch) geprägt. Jedoch sieht sie den reinen, radikalliberalen Kapitalismus als überholt an, gepriesen wird von Schwab und dem WEF vielmehr ein „stakeholder-Kapitalismus“, bei dem als Erfolgsfaktoren nicht nur der Spaß der Eigentümer und deren Rendite zählen, sondern auch alle anderen Beteiligten („stakeholder“) wie Mitarbeiter, Kunden, die Gesellschaften, in denen die Unternehmen eingebettet sind, die Umweltressourcen u.v.m. Kennzeichnend dabei ist für das WEF der starke Glaube an private-public-partnership. Das WEF versteht sich global, systemisch und beratend.

Man mag diese Haltung als idealistisch, unrealistisch oder auch als eine Sammlung von Schutzbehauptungen sehen, eines ist sie nicht: eine Weltverschwörung.  Tatsächlich passte gerade eine globale Gesundheitsvorsorge und Pandemieprävention schon vor 2020 genau in die Denkweise des WEF. Natürlich ist aus dessen Sicht dabei an die Pharmaindustrie zu denken. Aber auch an die unterschiedlichen Staaten, in denen eine Pandemie bekämpft werden muss, die Auswirkungen einer solchen Krise auf Wirtschaftssubjekte jeder Größe von prekären Einzelunternehmern oder Arbeitern bis zu regionalen oder internationalen Unternehmen, internationale Bündnisse und Feindschaften, NGOs, einfach alles muss betrachtet werden. Und wenn möglich muss zwischen all diesen stakeholdern eine Kooperation organisiert werden. Dass das WEF dabei unter anderem so eng mit der Bill and Melinda Gates Stiftung kooperiert, ist auf diesem Feld der Ausdruck der oben genannten Überzeugung, dass „privat“ und „öffentlich“ zusammen arbeiten sollten.

So denkt Schwab, und wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man sagen, dass ihm die Covid- 19 Pandemie jetzt richtig zu Pass kommt. Denn nun kann er sein vernetztes, systemisches, internationales  Denken an Hand dieser sehr konkreten, vernetzten, systemischen, internationalen Krise formulieren.

Und genau das tut er in dem Buch „Der große Umbruch“ zusammen mit seinem CoAutor Thierry Malleret. Das Buch erschien im Juni 2020, also mitten im Verlauf der Pandemie aber vor der „2. Welle“ in Europa. „Vorrangiges Ziel des Buches ist es, den künftigen Entwicklungen in verschiedensten Bereichen Rechnung zu tragen“ (KindlePos.11).  Das Buch befasst sich erstens mit den zu erwartenden Auswirkungen von Covid 19 auf die Zukunft, die nach Ansicht der Autoren „weitreichend und dramatisch“ sein werden. Und zweitens immer damit verwoben mit den Mitteln und Methoden, wie diesen Auswirkungen begegnet werden sollte.

Betrachtet werden dabei Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft, Geopolitik, Umwelt und Technologie. Danach schaut das Buch speziell auf verschiedene Branchen und Unternehmen und in einem dritten Kapitel geht es um mögliche Folgen für die Einzelnen.

Diese Erläuterungen der möglichen Auswirkungen finde ich dann ziemlich unterschiedlich in ihrer Qualität und Überzeugungskraft. Man merkt hier und da schon, dass das Buch hopplahopp innerhalb kürzester Zeit fertig gestellt wurde. Es gibt durchaus lange Stellen mit Binsenweisheiten und Wiederholungen.

Einige Gedankengänge sind jedoch sehr fesselnd und vor allem eben systemisch gedacht, platt gesagt, es wird berücksichtigt, dass alles mit allem zusammen hängt.

Die Auswirkung von Covid 19 auf die Weltwirtschaft wird demnach  vor allem eines sein: immens. Das Buch erläutert das Wissen aus früheren Pandemien und verknüpft diese mit den Merkmalen der heutigen Wirtschaft: Interdependenz, Schnelligkeit und Komplexität. Daraus folgt, dass die Auswirkungen dieser Pandemie stärker sein werden als von je einem Ereignis zuvor einschließlich II. Weltkrieg, 9/11 und allem anderen. Und der größten ökonomischen Krise der Geschichte mit all ihren Auswirkungen sollte/könnte die Menschheit mit anderen Mitteln begegnen, als den bisher angewandten.

Beispiele:  Das Wirtschaftswachstum wird einbrechen und sich lange nicht mehr erholen. Daraufhin könnte die Weltgemeinschaft mit der Etablierung eines qualitativen, nachhaltigen Wirtschaftswachstums einschließlich green economy reagieren. Es wird zu weltweiter Arbeitslosigkeit  von riesigem Ausmaß kommen. Andererseits werden örtlich Arbeitskräfte fehlen, die Reaktion sollte eine Umverteilung von Reichtum von Oben nach Unten sein. Ja, das ist nicht logisch, das habe ich beim Lesen auch gedacht.

Anderes Beispiel: das Virus entspringt auch einer fortgeschrittenen Naturausbeutung. Der Umgang mit Tieren, Luftverschmutzung et.c. haben ihn begünstigt. Andererseits bewirken die Lockdowns einen sofortigen Rückgang der CO2 Emissionen. Daraus könnte die Welt lernen und fürderhin ökologischer wirtschaften.

Thema technologischer Umbruch: hier ist das Buch am überzeugendsten: Covid 19 bedeutet einen boost für den Technologiewandel. Die Chancen, die sich daraus ergeben versteht jeder.  Schwab warnt in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor einer Ausuferung der persönlichen Überwachung im Nachgang von Tracing und Regulierung. Er verlangt, dass dem etwas entgegen gesetzt werden muss!

Es gibt noch viele weitere Fundstücke in dem Buch für Interessierte, manches überzeugend, manches auch etwas fabelhaft.

Mir ist wichtig, zu betonen, dass in dem Buch keinerlei Aufforderungen, Verabredungen oder auch nur Hinweise gibt, dass Covid 19 absichtlich ausgelöst worden sein könnte, dass die Demokratie abgeschafft werden sollte, das Menschen durch Meditech versklavt werden sollten oder ähnliches. Bei „The Great Reset“ handelt es sich um kein Handbuch der Verschlimmerung sondern eher um idealistische Ratschläge und Diskussionsbeiträge (z.B. für die nächste Veranstaltung des WEF).

Vorwerfen könnte  an den Autoren allerdings Naivität. Dass die Methoden, die in eine Krise geführt haben nicht die gleichen sein können, um sie zu überwinden,  das betet immer jeder Change-Berater vor. Allein befolgt wird diese Weisheit eben oft nicht.

Ein weiterer Kritikpunkt: die lässige Hinnahme von Unternehmerfamilien als „privater Sektor“. Privatpersonen und deren Anhang, die märchenhaft reich geworden sind durch Instrumente der massiven Erhöhung der Produktivität (z.B. Microsoft von Windows bis Office) ohne dass dabei ein gerechter Ausgleich für die Öffentlichkeit geleistet wurde z.B. in Form von Rentenzuschüssen oder oft auch nur gerechten Steuern. Diese Erscheinungen von Megareichtum sind nach begründeter Meinung  vieler nicht rein privater Natur.

Wie hat „Der große Umbruch“ mir geholfen? Was das Buch wirklich gut schafft ist den Blick zu weiten um die Ereignisse der Pandemie als Auswirkungen eines Veränderungsprozesses zu begreifen, der nun einmal gerade abläuft. Der Fokus wird von den deprimierenden offenbar unumgänglichen Maßnahmen im Hier und  Jetzt abgelenkt, gelenkt auch in die Zukunft, wie alles werden kann. Plötzlich hat die Pandemie für mich ein klares „Danach“ bekommen und wurde gewissermaßen professionell begreifbar. Sobald ich, angeregt von dem Buch, über die gesamten komplexen Zusammenhänge und ihre Möglichkeiten für die Zukunft nach gedacht habe, begann ich mich weniger ohnmächtig zu fühlen. Anders als zuvor, als ich mir wöchentlich vergeblich Orientierung erhoffte von den nervigen, hilflosen Statements mancher Politiker. Diese sind jetzt eben auch nur kleine Elemente im soundsovielten Unterkapitel des „Great Reset“.